Talmudisches

Positiv auf andere schauen

Foto: Getty images / iStockphoto

Ein Midrasch erzählt von Rabbi Jannai, der einmal einen Hausierer durch die Straßen gehen sah, der das »Elixier des Lebens« anbot. Interessiert ging Rabbi Jannai auf den Mann zu und fragte, was er genau verkaufe.

»Meine Ware ist nicht für Sie, ehrwürdiger Rabbi, sie ist für das einfache Volk. Denn das Geheimnis für ein langes Leben ist in Ihren heiligen Büchern verborgen«, erwiderte der Hausierer. Dann las er aus den Psalmen: »Wer begehrt das Leben … Hüte deine Zunge vor Bösem und deine Lippen vor falscher Rede« (34,13).

Laschon Hara, böses Gerede, zu vermeiden, ist ein Heilmittel für vieles im Leben

Rabbi Jannai erklärte daraufhin, dass er diesen Vers sein Leben lang zitiert und doch nie richtig verstanden habe, bis der Hausierer ihn nun verständlich machte. Laschon Hara (»böses Gerede«) zu vermeiden, sei ein Heilmittel für vieles im Leben. Wer sich vor bösem Gerede, Klatsch und Ähnlichem zurückhält und stattdessen ein friedliches Miteinander anstrebt, hat eine bessere Chance auf ein ruhigeres, friedlicheres und damit längeres Leben. Deshalb nennt man dies ein »Elixier des Lebens« (Midrasch Rabba, Metzora; Avoda Sara 19b).

Eine andere Erzählung handelt von einem Rabbiner, für den ein Schidduch, eine Eheanbahnung, vorgeschlagen wurde. Da dies vielversprechend klang, machte er sich auf den Weg, um die Familie kennenzulernen. Der Weg war weit, und so übernachtete er in einem Gasthof. Nach nur wenigen Stunden hörte der Rabbi Böses über die potenzielle Braut und ihre Familie.

Er beendete das Gespräch, indem er sagte: »Jetzt verstehe ich, warum der Allmächtige ein Wunder geschehen ließ und Elieser (Awrahams Diener) Riwka so schnell finden konnte. Wäre Elieser in einem Gasthof über Nacht geblieben, hätte er böses Gerede gehört, und das hätte dem Schidduch sicher geschadet.«

Wenn ein Mensch Böses über andere spricht, werden die schlechten Taten der anderen auf den Sprechenden übertragen

Unsere Weisen sagen: Wenn ein Mensch Böses über einen anderen spricht, werden die Awonot, die schlechten Taten des anderen, auf den Sprechenden übertragen. Das, was gesprochen wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden. Mit unseren guten Taten, mit Tefilla (Gebet) und Chesed (Güte) haben wir jedoch die Macht, Millionen guter Engel zu schaffen, die uns als Individuen und als Volk begleiten.

In der heutigen Zeit, in der sich Informationen anscheinend wie von selbst verbreiten, erscheint die Grenze zwischen Spaß, Ironie und Sarkasmus fließend. Dennoch trägt jeder Verantwortung dafür, wie die eigene Online-Persönlichkeit in Chats wirkt – was allein aufgrund der digitalen Umgebung nicht leicht ist. Die Gesetze von »Schmirat Halaschon«, dem achtsamen Umgang mit der Sprache, und »Weahawta lereacha kamocha« (Liebe deinen Nächsten wie dich selbst) gelten auch in der digitalen Kommunikation.

Laschon Hara hat seinen Ursprung in vielen negativen Charaktereigenschaften, die jeder Mensch kennt: Unzufriedenheit mit sich selbst und Neid auf andere führen zu einer innerlich negativen Beurteilung anderer. Wer über andere schlecht denkt und urteilt, lässt diese Gedanken oft schneller als gewollt nach außen dringen. Es ist also die innere, unsichtbare Arbeit, die uns zu besseren Menschen machen kann.

Positiver innerer Rahmen

Eine Frau – nennen wir sie Sara – hatte stets Schwierigkeiten mit ihrer Kollegin. Die beiden waren Lehrerinnen und sahen sich oft im Lehrerzimmer. Sara musste sich häufig anhören, wie sich die Kollegin über alles und jeden aufregte, und diese negative Einstellung machte ihr zu schaffen. Anstatt sich innerlich jedes Mal über die Kollegin zu empören, wurde Sara kreativ und versuchte, über einen Zeitraum von einem halben Jahr täglich zwei gute Dinge über sie aufzuschreiben. Am Ende dieses Zeitraums sah Sara ihre Kollegin mit ganz anderen Augen – dank des positiven inneren Rahmens, den sie in dieser Zeit in sich geschaffen hatte.

Rabbi Eliyahu Eliezer Dessler (1892–1953) lehrte, dass wir diese Welt wie Kinder verstehen, die durch ein Schlüsselloch schauen. Nicht alles können wir begreifen, nicht alles ergibt immer Sinn. Doch andere Menschen im positiven Licht zu sehen, kann viel Gutes für uns selbst und die Welt bringen.

Gemeinden

Ratsversammlung des Zentralrats der Juden tagt in Frankfurt

Das oberste Entscheidungsgremium des jüdischen Dachverbands kommt einmal im Jahr zusammen

 01.12.2025 Aktualisiert

Wajeze

Aus freier Entscheidung

Wie Jakow, Rachel und Lea eine besondere Verbindung zum Ewigen aufbauten

von Paige Harouse  28.11.2025

Talmudisches

Frühstück

Was schon unsere Weisen über die »wichtigste Mahlzeit des Tages« wussten

von Detlef David Kauschke  28.11.2025

Doppel-Interview

»Wir teilen einen gemeinsamen Wertekanon«

Vor 60 Jahren brachte das Konzilsdokument »Nostra aetate« eine positive Wende im christlich-jüdischen Dialog. Bischof Neymeyr und Rabbiner Soussan blicken auf erreichte Meilensteine, Symbolpolitik und Unüberwindbares

von Karin Wollschläger  28.11.2025

Kiddusch Lewana

Im Schein des Trabanten

Auf jeden neuen Mond sprechen Juden einen Segen. Was steckt dahinter?

von Rabbiner Dovid Gernetz  27.11.2025

Konzil

»Eine besondere Beziehung«

»Nostra Aetate« sollte vor 60 Jahren die Fenster der katholischen Kirche weit öffnen – doch manche blieben im christlich-jüdischen Dialog verschlossen. Ein Rabbiner zieht Bilanz

von David Fox Sandmel  21.11.2025

Toldot

An Prüfungen wachsen

Warum unsere biblischen Ureltern Hungersnöte und andere Herausforderungen erleben mussten

von Vyacheslav Dobrovych  20.11.2025

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  20.11.2025

Talmudisches

Gift

Was unsere Weisen über die verborgenen Gefahren und Heilkräfte in unseren Speisen lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  20.11.2025