Gelehrter

Orthodox, bildungsfreundlich, weltoffen

In Israel florieren zahlreiche Talmud-Akademien (Jeschiwot) unterschiedlicher Provenienz; in jedem Lehrhaus wirken jeweils mehrere Dozenten. Einige dieser Talmud-Lehrer haben in ihren jungen Jahren ein Hochschulstudium absolviert und entsprechende akademische Titel erworben. Zu dieser Gruppe gehört Rabbiner Dr. Aharon Lichtenstein (Jahrgang 1933), der seit mehr als vier Jahrzehnten an der Spitze von Jeschiwat Har Etzion in Alon Schewut (südwestlich von Jerusalem) steht. Seit geraumer Zeit gilt Lichtenstein als einer der führenden Köpfe der bildungsfreundlichen Orthodoxie.

Geboren wurde Lichtenstein in Frankreich, aber er wuchs in den Vereinigten Staaten auf. Zu seinen Toralehrern zählt er zwei weltberühmte Denker: Rabbiner Yizhak Hutner und Rabbiner Joseph B. Soloveitchik. Lichtenstein heiratete eine Tochter von Soloveitchik und hat später mehrfach über seinen vor 20 Jahren verstorbenen illustren Schwiegervater gesprochen und geschrieben.

An der Harvard-Universität in Boston hat er Literaturwissenschaft studiert; seine 1962 publizierte Doktorarbeit behandelt die Theologie von Henry More. Noch heute zitiert Lichtenstein gerne Verse englischer Lyriker, die er bewundert. Einmal hat er sogar den Psalmenkommentar des Kirchenvaters Augustinus lobend erwähnt. Das alles zeugt von einer Grundhaltung, die große Werke nichtjüdischer Dichter und Denker zu schätzen und zu würdigen weiß.

Tief schürfend Dabei ist Lichtenstein ein streng orthodoxer Jude, der alle Phänomene im Lichte der Tora zu prüfen empfiehlt. An seinem Beispiel kann man erkennen, dass ein Weg, der Tora und Weltkultur kombiniert, auch in der Gegenwart durchaus gangbar ist. Tausende Studenten haben seine Ansprachen gehört und von ihm Tora gelernt. Einige seiner Schüler haben Vorlesungsmitschriften bearbeitet und in Buchform veröffentlicht.

Bis zum jetzigen Zeitpunkt liegen sieben Bände der Talmudlesungen von Lichtenstein vor. Für diese Forschungsarbeit ist dem Meister vor Kurzem der Rabbiner Kook-Preis der Stadt Tel Aviv-Jaffo verliehen worden. In der Begründung der Preisrichter heißt es, dass Lichtenstein die Brisker Methode des Talmud-Studiums weiterentwickelt und perfektioniert habe und dass seine tief schürfenden Analysen eine Erfassung der talmudischen Logik erleichtern.

Bemerkenswert ist, dass Lichtenstein sich nicht auf die Erörterung religionsgesetzlicher Fragen beschränkt hat. Ausführlich ging er bei vielen Gelegenheiten auf Probleme der religiösen Weltanschauung ein. So hat er zum Beispiel erläutert, dass zwei Sorten von Gottvertrauen (hebräisch: Bitachon) zu unterscheiden sind.

Mehrere Sammlungen seiner stets solide gearbeiteten Essays sind in englischer Sprache erschienen. Im Internet findet sich ein Blog »Pages of Faith«, der Lichtensteins Anschauungen gewidmet ist; der Lehrer nimmt Stellung zu Themen, die man gerade in frommen Kreisen diskutiert, und Leser können, wie in Blogs üblich, das Gesagte kommentieren. Rabbiner Chaim Sabbato hat 2010/2011 mit Lichtenstein 20 Gespräche über Gott und die Welt geführt; aus diesen Dialogen entstand ein hebräisches Buch, das als eine gute Einführung in die Gedankenwelt von Lichtenstein dienen kann.

Rechtsruck Vor wenigen Jahren hat der amerikanisch-jüdische Soziologe Samuel Heilman von einem Rechtsruck der jüdischen Orthodoxie gesprochen. Wer wird die Richtigkeit dieser These bezweifeln? Lichtenstein bedauert diese Spaltungen erzeugende Entwicklung.

Seine eigene Standortreflexion erweist sich als eine Verteidigung der modernen Orthodoxie gegen Einwände, die vom rechten Flügel der Orthodoxie erhoben werden. Lichtenstein betont die Komplexität unserer Wirklichkeit, die Gefahr jeder Einseitigkeit und die Notwendigkeit einer kritischen Selbstprüfung. Er führt mehrere Torastellen an, auf die eine bildungsfreundliche Orthodoxie sich stützen kann.

Für nicht wenige Talmudisten und fromme Akademiker war und bleibt Lichtenstein ein wichtiger Wegweiser. Am 24. Mai begeht der Leiter von Jeschiwat Har Etzion seinen 80. Geburtstag. Möge es ihm beschieden sein, noch lange bei guter Gesundheit Tora forschen und lehren zu können.

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025

Jerusalem

Nach Eklat in Jerusalem: Westfälische Präses setzt auf Dialog

Projekte, Gedenkorte und viele Gespräche: Die Theologin Ruck-Schröder war mit einer Delegation des NRW-Landtags fünf Tage in Israel und im Westjordanland. Angesichts der Spannungen setzt sie auf dem Weg zur Verständigung auf Begegnungen und Dialog

von Ingo Lehnick  04.11.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Lech Lecha

Im Sinne der Gerechtigkeit

Awraham war der Erste in der Menschheitsgeschichte, der gegen das Böse aufstand

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  31.10.2025

Talmudisches

Audienz beim König aller Könige

Was unsere Weisen über das Gebet und seine Bedeutung lehren

von Rabbiner Avraham Radbil  31.10.2025

Geschichte

Wer war Kyros der Große?

Manche behaupten, Donald Trump sei wie der persische Herrscher, der den Juden die Rückkehr nach Jerusalem erlaubte. Was hinter dem Vergleich steckt

von Rabbiner Raphael Evers  30.10.2025

Interview

»Süßes gibt’s auch in der Synagoge«

Jugendrabbiner Samuel Kantorovych über Halloween, dunkle Mächte und Hexen im Talmud

von Mascha Malburg  30.10.2025

Vatikan

Papst bedauert Krise im Dialog mit Juden - verurteilt Antisemitismus

Seit Jahren ist der Dialog des Vatikans mit dem Judentum belastet. Nun hat Leo XIV. versucht, die Dinge klarzustellen - mit einem Bekenntnis zum Dialog und gegen den Antisemitismus

von Ludwig Ring-Eifel  29.10.2025

Schwielowsee

Shlomo Afanasev ist erster orthodoxer Militärrabbiner für Berlin und Brandenburg

Militärrabbiner gibt es bereits in Deutschland. Nun steigt der erste orthodoxe Rabbiner bei der Bundeswehr in Brandenburg ein

 29.10.2025