Wajikra

Opfer und Segen

»Wenn jeder Mann unter euch ein Opfer vor Gott bringt«: Zeremonie im Cardo der Jerusalemer Altstadt, März 2016 Foto: Flash 90

Wajikra (Es rief zu Mosche) – so heißen das dritte Buch der Tora und der erste Abschnitt darin. Sein lateinischer Name Levitikus verweist auf die Lehre des Priestertums (Torat Kohanim), den Dienst der Leviten am heiligen Ort, und beschreibt, wie sich das Volk Israel vor Gott heiligt.

Diese Heiligung wird in der Tora zeitlich und räumlich definiert: Am Schabbat, den Feiertagen und im Gebet treffen Gott und Mensch aufeinander. Zum anderen gibt es zentrale Treffpunkte: In der Vergangenheit waren es die Stiftshütte und später der Tempel, heute sind es die Synagogen.

In den ersten Kapiteln entfaltet das Buch die Bestimmungen über die Ganz-, Speise-, Dank- und Schuldopfer. Was bedeuten sie? Was beabsichtigt Gott mit ihnen? Häufig bleibt ihre Bedeutung für uns heute unklar, und wir halten sie für wertlos, nachdem der Tempel zerstört wurde und es keinen Opferkult mehr gibt. An seine Stelle trat das Gebet.

götzendienst Maimonides, der Rambam (1138–1204), schrieb in seinem Buch More Newuchim, das Darbringen der Opfer sei wie eine Medizin gegen den Götzendienst. Damit Israel nicht dem Götzendienst seiner Nachbarvölker folgte, ord­nete der Ewige an, Ihm allein an bestimmten Orten nach Seinen Weisungen zu opfern.

In den ersten Kapiteln entfaltet das Buch die Bestimmungen über die Ganz-, Speise-, Dank- und Schuldopfer. Was bedeuten sie?

Nachmanides, der Ramban (1194–1270), sprach sich gegen diese Erklärung aus. Er meint vielmehr, die Opferungen seien von Gott befohlen, weil Er ihren lieblichen Geruch genießt und einfach Freude daran hat, wenn Menschen Ihm opfern, wie wir im 3. Buch Mose lesen: »Das ist ein Brandopfer, ein Feueropfer zum lieblichen Geruch für den Ewigen« (1,9).

Dafür spricht, dass Noach, nachdem er die Arche verlassen hatte, Gott ein Rauchopfer brachte. Da seine Familie und er die einzigen Überlebenden nach der Sintflut waren, existierte kein Götzendienst, den er mit seinem Opfer hätte bekämpfen müssen.

Das Gleiche gilt für die Opfer der Brüder Kain und Abel. Aus ihrer Epoche berichtet uns die Tora noch von keinem Götzendienst. Deshalb besteht kein Zweifel daran: Mit dem Gebot der Opferpraxis soll den Kindern Israels schlicht und einfach der Weg eröffnet werden, Gott nahe zu kommen.

Sühne Der Ramban erklärt weiter: Die Opferungen dienen den Menschen zur Sühne ihrer Sünden, die sie in Gedanken, Worten und Taten auf sich geladen haben. Diese Sühnekomponente wird in der Opferhandlung besonders bei der Handaufstemmung deutlich. Hier vollzieht der Opfernde symbolisch die Trennung von seiner begangenen Sünde und ihren Übergang auf das Opfertier. Und mit seinem Mund soll er Reue bekennen über sein Fehlverhalten.

Bei der Anweisung, die Eingeweide des Opfertieres zu verbrennen, muss man wissen, dass bestimmte Organe, wie die Nieren, für die Trieb- und Willenskräfte des Menschen stehen. Sie beherrschen die Werke seiner Hände und entscheiden über die Wege, die er geht. Das über den Altar zu versprengende Blut des Opfertieres steht für die Seele des Menschen, der sich an Gott versündigt hat.

Nach solch einer Opferhandlung, betont Nachmanides, solle der Mensch dankbar sein, dass Gott Erbarmen zeigt, sein Opfer, also Blut um Blut und Seele um Seele, angenommen hat.

Midrasch Der Midrasch Jalkut Maajan Gannim fragt: Warum steht geschrieben: »Wenn jeder Mann unter euch ein Opfer vor Gott bringt«? Warum heißt es »jeder unter euch«? Es hätte doch einfach heißen können: »Wenn jemand ein Opfer vor Gott bringt.«

Dieser Zusatz »jeder unter euch« steht in diesem Zusammenhang nicht in der Tora. Der Midrasch antwortet: Jeder, der täglich 100 Brachot, Segenssprüche, sagt, erweckt den Eindruck, er habe alle Opferungen dargebracht. Daraus ergibt sich wiederum die Frage: Worin besteht die Verbindung zwischen Opferungen und den 100 Segenssprüchen? Wenn wir diese Verbindung verstehen, dann kann es sein, dass die Welt der Segenssprüche uns Licht in die Welt der Opfer bringt.

Fragen wir zunächst allgemein: Was ist der Sinn einer Bracha? Rabbi Jehuda Halevi (1075–1141) erklärt in seinem Buch Kusari, dass der Segensspruch unsere Wahrnehmung und unseren Genuss der weltlichen Güter und Gaben sensibilisiert und intensiviert.

Brachot Die Brachot bringen uns zu Bewusstsein, dass es unser Schöpfer ist, der uns alles Gute hier auf Erden genießen lässt. Sie schärfen unsere Sinne für den Geber aller Gaben. Durch sie lernen wir es zu schätzen, dass die Sonne scheint, die Erde Frucht bringt, die Familie sich am Schabbat und an den Feiertagen versammelt …

Was folgt nun aus diesem geschärften Bewusstsein für den Geber aller Gaben? Im Talmud (Brachot 35,1) lesen wir von Rabbi Levi Rami, der folgende Aussagen miteinander zu bedenken gibt: »Die Welt gehört Gott« (Psalm 24,1) und »Der Himmel gehört Gott, aber die Erde gab Er dem Menschen« (Psalm 115,16).

Die Brachot bringen uns zu Bewusstsein, dass es unser Schöpfer ist, der uns alles Gute hier auf Erden genießen lässt.

Rabbi Levi Ramis Erklärung ist: Bevor der Mensch den Segensspruch sagt, gehört alles dem Ewigen. Wenn wir aber die Bracha sagen, dann bitten wir Gott um Seine Erlaubnis, die Welt zu genießen und zu gebrauchen. Beginnen wir aber zum Beispiel mit einer Mahlzeit, ohne vorher den Segensspruch zu sagen, so begehen wir Diebstahl am Schöpfer. Nur nachdem wir die Bracha gesprochen haben, gewährt uns Gott, Seine Güte in der Welt zu genießen.

Erklärung Rabbi Joseph B. Soloveitchik (1903–1993) liefert eine interessante, vom oben Ausgeführten abweichende Erklärung zu den beiden Psalmworten. Er sagt: »›Die Erde gehört dem Menschen‹ – diese Aussage beschreibt die Welt, bevor wir sie segnen –, und ›die Erde gehört Gott‹ beschreibt die Welt, nachdem wir sie gesegnet haben.«

Warum ist das so? Eine Welt ohne Segenssprüche ist eine Welt ohne Gottes Geist und Inspiration. Sie gleicht einer neoplatonisch gedachten Welt, in der wie durch einen Metallvorhang das menschliche Königreich von Gottes Königreich getrennt existiert. Das Spirituelle gehört dann nur zum Himmelreich, das Physische steht allein dem Menschen zur Verfügung. An ein Zusammenkommen beider Seinsweisen kann nicht gedacht werden.

Wenn die Menschen aber die Gaben und Güter dieser Welt segnen, bevor sie sie gebrauchen und genießen, lassen sie den Geist Gottes in die Welt, in das physische Sein einziehen. Es kommt zur Erkenntnis Gottes in der Materie. Himmel und Erde sind einander nicht mehr Feind und fremd, sie werden zur Einheit, die in Gott ihren Grund hat. Brachot und Opfer geben Gott Ehre, loben Ihn als den Schöpfer allen Seins.

Das ist eine wichtige Botschaft, die uns die Tora mit der Segnung der physischen Welt gibt. So kommen im Judentum beide Seinsweisen – die spirituelle und materielle, physische – in unendlicher Form zusammen – dank der Brachot.

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

Inhalt
Der Wochenabschnitt steht am Anfang des gleichnamigen dritten Buches der Tora und enthält Anweisungen dazu, wie, wo und von
welchen Tieren die verschiedenen Opfer dargebracht werden müssen. Es werden fünf Arten unterschieden: das Brand-, das Schuld-, das Friedens- und das Sündenopfer sowie verschiedene Arten von Speiseopfern.
3. Buch Mose 1,1 – 5,26

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