BUND

Ohne Stolz und Hochmut

Dreimal in der Erzählung verwendet die Tora das Wort »jachdav« – »zusammen« –, um zu beschreiben, wie Vater und Sohn zusammen auf den Berg hinaufgehen. Foto: Getty Images/iStockphoto

Im Wochenabschnitt Wajera wird uns eine der zentralsten und bedeutendsten Geschichten der Tora erzählt, die Akedat Jizchak, die Bindung Jizchaks, als Gʼtt Awraham befahl, seinen Sohn Jizchak zu opfern, um seine Loyalität und Hingabe zu Ihm zu prüfen. Dies war laut den meisten Kommentatoren die schwierigste der zehn Prüfungen, die Gʼtt Awraham auferlegte. Doch im allerletzten Moment wurde Awraham von Gʼtt aufgehalten, und es wurde ihm der wahre Grund dieses außergewöhnlichen Gebots offenbart.

Statt seines Sohnes opferte Awraham einen Widder, der mit seinem Horn im Gebüsch hängen geblieben war. Als Erinnerung an diese Geschichte blasen wir bis zum heutigen Tag jedes Jahr an Rosch Haschana das Schofar, ein Widderhorn.

Nach den Ereignissen der Akedat Jizchak schreibt die Tora: »Und Awraham kehrte zu seinen Knaben zurück. Sie standen auf und gingen gemeinsam (jachdav) nach Beer Sheva, und Awraham blieb in Beer Sheva« (1. Buch Mose 22,19).

HERAUSFORDERUNGEN Eine ähnliche Geschichte wurde schon viele Male erzählt, an vielen Orten und in vielen Kulturen. Der Held begibt sich auf eine Reise. Auf dem Weg dorthin wächst er innerlich, er stellt sich tapfer seinen Aufgaben und Herausforderungen. Er vollbringt wundersame Dinge, die keiner vor ihm schaffte und daher keiner von ihm erwartet hatte.

Diese wundersamen Dinge hängen von der jeweiligen Kultur und ihren Werten ab. In der einen Kultur sind es vielleicht Taten des Mutes und der Tapferkeit. Der Held tötet Drachen, rettet Prinzessinnen oder setzt sich für Unterdrückte ein. In anderen Gesellschaften wird der Held mit dem einfachen Mann gehen, ihn mit Weisheit inspirieren oder sich um die Bedürftigen oder Kranken kümmern.

Irgendwann wird der Held seine größte Prüfung bestehen müssen, eine Prüfung, die ihn für seine weitere Zukunft definieren wird. Er wird sich tapfer durchsetzen. Dabei übersteigt er die gewöhnliche Existenz.

Vielleicht steigt er in den Olymp oder in den Himmel auf, vielleicht besiegt er den sonst unbesiegbaren Bösewicht oder erschafft eine neue Welt für seine Mitmenschen. Vielleicht stirbt er auch in einer Tragödie.

Doch nach dieser letzten Prüfung existiert bei allen die Erkenntnis, dass seine gewöhnliche alltägliche Routine in einer langweiligen Welt für ihn nicht mehr angemessen ist, denn er ist nun ein Held und ist aus seinen alten alltäglichen Beschäftigungen herausgewachsen. Er hat eine neue besondere Stufe erreicht, die für gewöhnliche Menschen unerreichbar ist. Von dieser Stufe kommt er nie wieder herunter.

Doch so endet die Geschichte der Akedat Jizchak nicht, weder für Awraham noch für Jizchak. Die Auflösung der Geschichte wird oft übersehen, aber sie kommt völlig überraschend und unerwartet.

Dreimal in der Erzählung verwendet die Tora das Wort »jachdav« – »zusammen« –, um zu beschreiben, wie Vater und Sohn zusammen auf den Berg hinaufgehen. Das Wort bedeutet nicht dasselbe wie das verwandte Wort »jachad«, das eine eher beiläufige Verbindung ausdrückt. »Jachdav« ist intensiver und meint eine stärkere, wesentlichere Zusammengehörigkeit.

Awraham und Jizchak sind für ihre Ergriffenheit bekannt. Sie gehen Hand in Hand, voller Liebe und Vertrauen, bereit, Gʼtt mit einer Opfergabe zu dienen. Eine unschuldige Frage von Jizchak. Eine liebevolle, aber knappe Antwort von Awraham, die auf die unerwartete Rolle hinweist, die Jizchak auf dem Gipfel des Berges annehmen wird. Sie bleiben zusammen in Bewegung. Die Erkenntnis dessen, was kommen wird, berührt nicht das Band, das sie verbindet, ihre unzertrennliche Zweisamkeit.

Als alles vorbei ist, kehren sie beide zurück und machen sich auf den Weg nach Beer Sheva. Auch hier reisen sie jachdav, doch diesmal mit den beiden jungen Begleitern, die sie zuvor am Fuß des Berges hatten warten lassen. Laut den Kommentatoren handelt es sich um Awrahams Diener Elieser und um den älteren Sohn Jischmael, den Awraham mit der Magd Hagar hatte.

Jedem war klar, dass diese Männer nicht an dem Gʼttesdienst auf dem Gipfel teilnehmen sollten und konnten. Sie konnten mit der Art von Glauben, der Hingabe und Liebe, die Awraham und Jizchak für Gʼtt hatten, nichts anfangen, es war nicht ihre Welt.

TRIUMPH Die Geschichte, wie sie in anderen Kulturen erzählt wird, würde eine Verklärung von Awraham und Jizchak voraussetzen. Berührt von ihrer Begegnung mit dem Gʼttlichen, nachdem sie die höchste Prüfung ihres Lebens bestanden und die volle Kontrolle über ihr Inneres erlangt hatten, hätten sie einen hinreichenden Grund, die Welt des Gewöhnlichen und der einfachen Leute zu meiden. Jeder Stolz, den sie empfinden würden, wäre wohlverdient und umjubelt. Niemand würde es ihnen übelnehmen.

Das ist nicht der Weg Gʼttes. Nach ihrem größten Triumph kehren Awraham und Jizchak zu den einfachen Menschen und an ihren alten Lebensmittelpunkt zurück, den sie zuvor zurückgelassen hatten. Sie gehen mit ihnen, nicht hochmütig, sondern in echter Zweisamkeit.
Jeder Mensch verdient Respekt, ohne Rücksicht auf seinen Stand oder Rang. Hohe spirituelle Errungenschaften stellen nach Ansicht der Tora kein Hindernis dar, sich mit denen zu verbinden, die diese Errungenschaften nicht teilen. Sie bringt keine spirituellen Meister hervor, die auf realen oder selbst geschaffenen virtuellen Bergen thronen. Im Gegenteil, je bedeutender die Person ist, desto weniger überlegen gegenüber anderen und daher weniger distanziert von ihnen fühlt sie sich.

Nach dem Himmel zu greifen und eine himmlische Höhe zu erreichen, muss kein Rezept für Hochmut oder Abgrenzung sein. Es ist bemerkenswert, dass Awraham und Jizchak in der Lage waren, den Berg hinaufzugehen. Die Tora zeigt uns hier, dass sie auch in der Lage waren, in ihrer alten Gestalt den Berg hinunterzugehen, was ihnen noch eine größere Ehre erweist. Denn nach dem Bestehen der allergrößten, der für uns alle unfassbaren Prüfung, in der Awraham seinen eigenen Sohn opfern und Jizchak sein Leben für Gʼtt hingeben sollte, sind Awraham derselbe Awraham und Jizchak derselbe Jizchak geblieben wie zuvor.

Der Autor ist Rabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

inhalt
Der Wochenabschnitt Wajera erzählt davon, wie Awraham Besuch von drei g’ttlichen Boten bekommt. Sie teilen ihm mit, dass Sara einen Sohn zur Welt bringen wird. Awraham versucht, den Ewigen von seinem Plan abzubringen, die Städte Sedom und Amora zu zerstören. Lot und seine beiden Töchter entgehen der Zerstörung, seine Frau jedoch erstarrt zu einer Salzsäule. Awimelech, der König von Gerar, nimmt Sara zur Frau, nachdem Awraham behauptet hat, sie sei seine Schwester. Dem alten Ehepaar Awraham und Sara wird ein Sohn geboren: Jizchak. Hagar und ihr Sohn Jischmael werden fortgeschickt. Am Ende der Parascha prüft der Ewige Awraham: Er befiehlt ihm, Jizchak zu opfern.
1. Buch Mose 18,1 – 22,24

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Wajigasch

Mut und Hoffnung

Jakow gab seinen Nachkommen die Kraft, mit den Herausforderungen des Exils umzugehen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  19.12.2025

Mikez

Füreinander einstehen

Zwietracht bringt nichts Gutes. Doch vereint ist Israel unbesiegbar

von David Gavriel Ilishaev  19.12.2025

Meinung

Heute Juden, morgen Christen

Judenhass führt konsequent zum Mord. Dafür darf es kein Alibi geben

von Rafael Seligmann  19.12.2025

Chanukka

»Wegen einer Frau geschah das Wunder«

Zu den Helden der Makkabäer gehörten nicht nur tapfere Männer, sondern auch mutige Frauen

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  18.12.2025

Chanukka

Berliner Chanukka-Licht entzündet: Selbstkritik und ein Versprechen

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin am Mittwoch mit viel Politprominenz das vierte Licht an Europas größtem Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet

von Markus Geiler  18.12.2025

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025