Reproduktionsmedizin

Neue Wege zum eigenen Kind

Heute gibt es zahlreiche Möglichkeiten, unfruchtbaren Paaren zu helfen. Doch viele dieser Techniken werfen moralische und halachische Fragen auf. Foto: dpa

Bei Besuchen in Israel erlebe ich immer wieder, wie selbstverständlich Menschen einander fragen, ob ihre Kinder das Ergebnis einer Fruchtbarkeitsbehandlung seien. Diese Erlebnisse zeugen nicht nur von israelischer Kontaktfreudigkeit, sondern spiegeln auch eine gesellschaftliche Realität wider. Mehr als in jedem anderen Land ist die Reproduktionsmedizin in Israel eine selbstverständlich genutzte, gesellschaftlich akzeptierte und staatlich geförderte Realität.

Dies gilt ähnlich auch für Juden in der Diaspora, da der Kinderwunsch gesellschaftlich sehr hohe Priorität hat. Die Frage ist also: Was passiert, wenn ein Mann nicht zeugungsfähig ist – etwa durch eine Krebserkrankung? Was passiert, wenn eine Frau unfruchtbar ist – etwa, wenn die Wechseljahre verfrüht eintreten oder der Kinderwunsch sehr spät aufkommt, das heißt, wenn eine Frau mit ihren eigenen Eizellen nicht schwanger werden kann? Ist es halachisch erlaubt, für das eigene Kind gespendeten Samen oder gespendete Eizellen zu nutzen? Wenn das Kind geboren wird, wer gilt im Fall der Eizellspende dann als die Mutter? Und wer gilt als der Vater, wenn das Kind durch Spendersamen empfangen wurde?

leid Die jüdischen Quellen lassen – und das ist nicht verwunderlich – in diesen Fragen keinen eindeutigen Schluss zu. Doch schon in der Tora ist das Leiden am Ausbleiben von Kindern ein wichtiges Thema. Die Entstehung des jüdischen Volkes wurde überhaupt erst möglich, als die hochbetagte Sara im Alter von 90 Jahren schwanger wurde.

Die Geschichte von Saras Schwangerschaft und Jizchaks Geburt wird sogar als Toraabschnitt zu Rosch Haschana gelesen. Ihr zur Seite als Prophetenlesung steht dort die Geschichte der lange unfruchtbaren Hanna und der Geburt ihres Sohnes, des Propheten Samuel. Die existenzielle Not von Menschen – Frauen und Männer –, deren Kinderwunsch sich nicht erfüllt, hatte im Judentum schon immer einen gewichtigen Platz.

Heute gibt es zahlreiche technische Möglichkeiten, unfruchtbaren Paaren zu helfen. Vor einer Generation war dies kaum vorstellbar. Während männliche Unfruchtbarkeit schon seit vielen Jahrzehnten mit einer Samenspende umgangen werden kann, ist erst vor gut 30 Jahren mit der In-vitro-Fertilisation eine Möglichkeit gefunden worden, viele Formen weiblicher Unfruchtbarkeit zu beheben. In vitro bedeutet, dass Ei- und Samenzellen außerhalb des menschlichen Körpers (also »künstlich«, daher »künstliche Befruchtung«) vereinigt werden und dann die schon befruchtete Eizelle in die Gebärmutter eingesetzt wird.

Leihmutter Mit der weiteren Möglichkeit der »Leihmutter«, also einer dritten Person, die die befruchtete Zelle austrägt und das Kind gebiert, kommt man auf drei früher verbundene, heute aber trennbare Aspekte von Elternschaft: die genetischen Eltern, von denen Ei- und Samenzelle stammen, die biologische Mutter, die das Kind austrägt, und schließlich die sozialen Eltern, die das Kind aufziehen.

Wenn man nun fragt, was das Judentum zur Eizellspende sagt, dann ist damit nicht das Judentum als soziale Gemeinschaft, als Kultur gemeint, die ja aufgrund ihres Kinderwunsches allen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin sehr offen gegenübersteht, sondern es geht um die jüdische Tradition, wie sie sich im jüdischen Recht, der Halacha, zeigt.

Halacha bezieht sich, wie das angelsächsische Recht, auf Präzedenzfälle. Je älter die Präzedenzfälle sind, desto größere Autorität haben sie. Da es sich aber bei der Eizellspende wie auch bei der gesamten Reproduktionsmedizin um ein neues Phänomen handelt, muss man froh sein, in der Tradition wenigstens Ansatzpunkte für die heutigen Fragestellungen zu finden.

Samen Im Babylonischen Talmud gibt es in Chagiga 14b eine Diskussion darüber, ob eine Frau ohne Geschlechtsverkehr schwanger werden könne; dies wird für denkbar gehalten. Wenn sie in Wasser badet, in das ein Mann seinen Samen ergossen hat, sei das möglich, und auf dem Kind liege kein Makel. Eine Jungfrau, die auf diese Weise schwanger werde, behalte ihren Status als Jungfrau, und sogar der Hohepriester, der nur eine Jungfrau heiraten darf, könne sie zur Frau nehmen. Da wir in der jüdischen Tradition keine deutlicheren Quellen zum Thema finden, müssen wir versuchen, über eine Analyse der einzelnen Aspekte zu einem Gesamtbild zu kommen.

Grundsätzlich geht es um die Frage, wie wichtig es ist, Kinder zu bekommen. Obwohl halachisch gesehen nur der Mann die Pflicht hat, Kinder zu zeugen – nach Hillel ein Mädchen und einen Jungen –, ist doch nicht nur durch den allgemeinen Auftrag der Tora »Seid fruchtbar und mehret euch«, sondern auch durch das klar definierte Recht der Frau auf Geschlechtsverkehr ihr Recht auf Kinder praktisch gegeben. Der Mann darf ihr Kinder nicht verweigern, auch wenn er selbst schon seine Pflicht mit einer anderen Frau erfüllt hat.

Ein zweiter Aspekt ist die Gesundheit von Eizellspenderin und -empfängerin. Als Juden sind wir verpflichtet, für unsere Gesundheit zu sorgen. Spenderin wie Empfängerin aber haben sich einer Hormonkur zu unterziehen, ohne die die Chance auf erfolgreiche Entnahme und Einpflanzung von Eizellen sehr gering wäre. Da diese Hormonbehandlung zwar belastend ist, sie in der Mehrzahl der Fälle aber keine gravierenden Konsequenzen zeigt, wird das Gesundheitsrisiko als vertretbar eingeschätzt. Gleichzeitig folgt aus diesem Risiko aber auch, dass keine Frau verpflichtet werden kann, sich zur Erfüllung des Kinderwunsches ihres Mannes einer solchen Behandlung zu unterziehen.

Ehebruch Nur wenige Autoritäten sehen die künstliche Befruchtung mit dem Samen des eigenen Mannes als verboten an. Wenn doch, hängt es davon ab, ob man schon die Abgabe der Samenspende als verbotenes Vergießen des Samens bewertet. Öfter vertreten wird die Ansicht, die Befruchtung mit fremden Spendersamen sei Ehebruch. Da jede Eizellspende mit künstlicher Befruchtung verbunden ist, würde so ein Verbot gelten, auch wenn die Einpflanzung einer fremden Eizelle als solches nicht problematisiert wird.

Die nächste Frage ist die nach dem Status der Eltern – beziehungsweise danach, wer eigentlich nach jüdischem Recht die Eltern dieses Kindes sind. Bei der Frage nach dem Vater gilt einerseits der Grundsatz, dass die Zeugung entscheidet. Andererseits ist halachisch die medizinische Feststellung der Vaterschaft verboten, um den Status des Kindes nicht zu gefährden. Hier ist die Angst vor Mamserut vorherrschend. Wenn auch nur theoretisch die Möglichkeit auf Geschlechtsverkehr der Eheleute in den zwölf Monaten vor der Geburt bestanden hat, gilt grundsätzlich der Ehemann als Vater. Häufig vertreten wird allerdings auch die Meinung, dass die künstliche Befruchtung den Vaterstatus per Zeugung aufhebt.

Status Bei der Frage nach der Mutter gilt vor allem, wer das Kind geboren hat. Hier wäre nach traditioneller Halacha die austragende Frau – und sei es eine Leihmutter – die eigentliche Mutter und nicht die Eizellspenderin, obwohl sie genetisch die Mutter ist. Die Frage nach den »richtigen« Eltern ist zugleich die Frage danach, ob das mithilfe von genetischem »Spendermaterial« gezeugte Kind von Geburt an als jüdisch gilt.

Denn selbst wenn die gebärende Mutter jüdisch ist, ist neuerdings umstritten, ob das bei einer Eizellspende automatisch auch für das Kind gilt – oder ob das Kind einen Konversionsprozess durchlaufen muss. Prinzipiell ist daher zu fragen, ob Eizell- und Samenspender jüdisch sein sollen. Die Angst vor unbeabsichtigtem Inzest und der damit verbundenen Mamserut führt halachisch zu der dominierenden Position, dass Spender und Spenderin nichtjüdisch sein sollen, wie auch bei der Adoption nichtjüdische Kinder vorgezogen werden. Im Reformjudentum, das sich stärker kulturell als halachisch definiert, wird hingegen meist ausdrücklich nach jüdischen Spendern gesucht.

Eine weitere wichtige Frage ist, was mit den entnommenen Eizellen beziehungsweise Embryonen geschehen soll, aus denen keine Kinder entstehen. Denn deutlich weniger als zehn Prozent der entnommenen Eizellen führen zu Lebendgeburten. Soll man die restlichen Eizellen und Embryonen »spenden«, sozusagen zur Adoption für andere Paare mit Kinderwunsch freigeben?

gene Der letzte wichtige Punkt handelt von der Beziehungsebene. Werden Eltern, die ihr Kind per Eizell- oder Samenspende empfangen haben, es wirklich so behandeln wie Eltern, bei denen sowohl der Vater als auch die Mutter die genetischen Erzeuger sind? Märchen aus aller Welt, die von bösen Stiefeltern sprechen, geben hier zu denken.

Wir haben nun einen großen Bogen gespannt – von dem im Judentum kulturell besonders starken Kinderwunsch über die Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin bis hin zu den vielen und komplizierten einzelnen Problemen, die aus halachischer Sicht zu bedenken sind.

Im Ergebnis gibt es kein einfaches Ja oder Nein, kein Schwarz oder Weiß. Vielmehr müssen wir eine Reihe von Risikoabwägungen treffen: Wie gesundheitsgefährdend ist der ganze Prozess für die verschiedenen Beteiligten? Wie wirkt es sich auf den Zusammenhalt der Familie und auf die Paarbeziehung aus, wenn das Kind nicht in jeder Hinsicht ein gemeinsames Kind ist? Einfache Antworten, die den Kinderwunsch von Eltern unhinterfragt gelten lassen, können genauso verantwortungslos sein wie ein Festhalten an jedem einzelnen Detail der überlieferten Halacha, ohne dass man den gesamten Komplex im Auge behält.

Letzten Endes kommt es hier, wie bei allen Familien, darauf an, wie sich die Eltern-Kind-Beziehung über die Jahre der Kindheit und Jugend entwickelt. Was bei allen problematischen Aspekten auf jeden Fall feststeht, ist die heilende Kraft, die vom schließlich erfüllten Kinderwunsch ausgeht.

Der Autor ist Judaist und studiert am Rabbinerseminar des Abraham Geiger Kollegs.

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