Tischa beAw

Napoleon und der Tempel

Gebet an Tischa beAw in Jerusalem, 2013 Foto: Flash 90

Eine Anekdote berichtet von einer Begegnung zwischen Napoleon und einer Gruppe von Landjuden. Als der Feldherr einmal in ein Dorf kam, sah er eine kleine Synagoge, die so alt aussah, als würde das Gebäude gleich zusammenfallen. Darin saßen Juden auf dem Boden und weinten. Napoleon fragte sie, was geschehen sei.

Die Juden antworteten, sie trauerten um den zerstörten Tempel. Der Franzose wollte wissen, wann der Tempel denn zerstört worden sei. Sie sagten: vor ungefähr 2000 Jahren. Napoleon schaute ungläubig – und fragte: Wie kann es sein, dass ihr heute wegen eines Ereignisses trauert, das vor fast 2000 Jahren geschah? Doch dann dachte er nach und fügte hinzu, dass nur ein Volk, das nach so langer Zeit in dieser Form über die Vergangenheit trauern könne, auch in Zukunft in der Lage sei, schwere Zeiten durchzustehen.

generation
Unsere heutige Generation ist eigentlich nicht mehr in der Lage, so zu trauern, als hätten wir die Tempelzerstörung selbst miterlebt. Unsere Weisen jedoch gaben uns durch Verpflichtungen, Regeln und Symbole einen angemessenen Rahmen, um sich Jahr für Jahr von Neuem mit dieser Trauer auseinandersetzen zu können.

Die neun Tage von Beginn des Monats Aw bis zum 9. Aw, also Tischa beAw, nennt man »Tischat ha Jamim«. Sie sind eine Vorbereitungsphase für den 9. Aw. In diesen Tagen gibt es bereits verschiedene Einschränkungen: Man verzichtet auf den Verzehr von Fleisch, macht keine Musik und rasiert sich nicht. Die Woche, in die Tischa beAw fällt, kann man als verstärkte Trauerphase bezeichnen, und Tischa beAw ist dann der Höhepunkt der Trauer.

Das Fasten an Tischa beAw dauert einen Tag, von Sonnenuntergang bis zum nächsten Sonnenuntergang. Vor dem Fasten nimmt man die Seuda Mafseket, das Abschlussmahl, zu sich. Man isst bevorzugt hart gekochte Eier, ein Symbol der Trauer, aber auch des Lebenskreises. Vereinzelt werden die Eier vor dem Verzehr in Asche getaucht, zur Erinnerung an die Tempelzerstörung. Bei dieser Mahlzeit wird auf Gourmetkost natürlich verzichtet.

bequemlichkeit
Verboten an Tischa beAw sind außer Essen und Trinken auch der Geschlechtsverkehr und das Tragen von Schuhen mit Ledersohlen, denn solche Schuhe konnten sich früher nur Wohlhabende leisten, und am Trauertag muss jede Art von Bequemlichkeit unterbunden werden. Man erneuert an diesem Tag nichts, man trägt auch keine neue Kleidung, geschweige denn kauft sie. An diesem Tag wird auch keine Tora gelernt, denn Toralernen erfreut die Menschen und erhellt Herz und Seele – deshalb ist es am Trauertag untersagt.

In der Synagoge wird die Rolle Ejcha, die vom Propheten Jeremias geschrieben wurde, gelesen. Er war ein Zeitgenosse der ersten Tempelzerstörung und ging danach mit in die erste Diaspora. Es werden auch die Kinot, also Klagelieder, gelesen – üblicherweise, während man auf dem Boden sitzt.

Alle diese uns auferlegten Regeln sollen uns dazu bringen, zu verinnerlichen, was damals passierte. Können wir die Trauer aber wirklich emotional nachvollziehen? Im Buch Ha Todaa (»Das Bewusstsein«), von Rabbi Elijahu Kitov steht, dass der Mensch Sinn und Ziel dieses Tages verfehlt hat, wenn er nur fastet, aber nicht in der Lage ist, seelische Bilanz zu ziehen. Das Fasten an sich steht nur an zweiter Stelle – es soll uns aufrütteln und sensibilisieren.

Im Talmud steht geschrieben, dass die Tempelzerstörungen nur deshalb geschehen konnten, weil unter den Juden selbst »Sinat chinam« herrschte, was übersetzt »grundloser Hass« bedeutet. Auch heute hat unsere Geschichte an Aktualität nichts verloren. Wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen, aus ihr lernen und nach dem Warum fragen. Denn unser Ziel muss es sein, dem grundlosen Hass nicht noch einmal zu verfallen.

richtung Auf der gesamten Welt richten sich Juden zum Gebet nach Israel aus. In Israel wiederum gen Jerusalem und in Jerusalem selbst in Richtung des Tempels. Heute ist die Kotel unser Fixpunkt. Nicht nur wir Menschen richten uns so aus, sondern auch unsere Synagogen folgen der Regel. Eine Synagoge heißt auch »Mikdasch meat« – ein wenig Tempel. Bemerkenswert ist, dass alle Gebete, die den Menschen mit G’tt verbinden, über eine gedankliche Verknüpfung mit dem Tempel verlaufen.

Der Unterschied zwischen der Diaspora und Israel ist, dass dort Geschichte physisch spürbar ist. In Israel ist es Brauch, an Tischa beAw zur Kotel zu gehen. Eine besondere Atmosphäre ist dort am Fastentag spürbar. Tausende Menschen sitzen klagend, weinend und betend im Kerzenlicht auf dem Vorplatz der Kotel und betrauern den Verlust des Tempels. Der französische Feldherr Napoleon hat es begriffen: Ein Volk, das die Vergangenheit dermaßen intensiv beklagen und ihren Verlust nachvollziehen kann, ist auch in der Lage, den Herausforderungen der Zukunft ins Auge zu sehen – und mögen sie noch so unerfreulich sein.

Emor

Im Schadensfall

Wie die Tora lehrt, Menschlichkeit und Gerechtigkeit miteinander zu verbinden

von Jacob Rürup  16.05.2025

Talmudisches

Erinnern und Gedenken

Was unsere Weisen über die Dinge sagen, die wir im Gedächtnis bewahren sollen

von Rabbiner Netanel Olhoeft  16.05.2025

Berlin

»So monströs die Verbrechen der Nazis, so gigantisch dein Wille, zu leben«

Leeor Engländer verabschiedet sich in einer berührenden Trauerrede von Margot Friedländer. Wir dokumentieren sie im Wortlaut

von Leeor Engländer  15.05.2025

Schulchan Aruch

Mit Josef Karo am gedeckten Tisch

Ein mittelalterlicher Rabbiner fasste einst die jüdischen Gesetze so pointiert zusammen, dass viele Juden sich bis heute an seinem Kodex orientieren

von Vyacheslav Dobrovych  15.05.2025

Chidon Hatanach

»Mein Lieblingsbuch ist Kohelet«

Wie es zwei jüdische Jugendliche aus Deutschland zum internationalen Bibelwettbewerb nach Israel geschafft haben

von Mascha Malburg  15.05.2025

Vatikan

Leo XIV. schreibt an Oberrabbiner in Rom

Eine seiner ersten persönlichen Botschaften hat Papst Leo XIV. an die Jüdische Gemeinde Rom geschickt. Und eine gute und enge Zusammenarbeit versprochen

von Anna Mertens  13.05.2025

Acharej Mot – Kedoschim

Nur in Einheit

Die Tora lehrt, wie wir als Gemeinschaft zusammenleben sollen

von Rabbiner Raphael Evers  09.05.2025

Talmudisches

Von reifen Feigen

Wie es kam, dass Rabbi Josi aus Jokrat kein Mitleid mit seinen Kindern hatte

von Rabbiner Avraham Radbil  09.05.2025

Philosophie

»Der kategorische Imperativ liebt weder dich noch mich«

Die deutsch-jüdische Aufklärung hat einen gefährlichen Golem erschaffen, behauptet Michael Chighel in seinem neuesten Werk. Sein ehemaliger Schüler hat es gelesen und kritisch nachgefragt

von Martin Schubert  09.05.2025