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Nachtgesichter

Nicht allein die Worte oder Bilder eines Traums sind entscheidend, sondern auch, wie wir ihn erzählen und verstehen (wollen). Foto: Getty Images

Du lässt mich träumen und belebst mich» (Jeschajahu 38,16), so dankt Chiskijahu, der König von Jehuda, Gott, nachdem er eine schwere Krankheit überlebt hatte. Manche Bibelübersetzungen merken hier an, dass der hebräische Text «schwierig», also nicht ganz eindeutig sei. Andere vereinfachen die Mehrdeutigkeit der Wurzel Chet-Lamed-Mem und übertragen sie als «genesen» (Buber/Rosenzweig) oder «stärken» (Zunz). Hinter diesen verschiedenen Wiedergaben der biblischen Wurzel für «träumen» steht doch die Vorstellung, dass Träume etwas mit Gesundheit und Kraft zu tun haben.

Rabbeinu Bachja (zu 2. Buch Mose 28,15) ordnet «Traum» (Chalom) und «Krieg» (Milchama) derselben Sprachfamilie zu. Auch im Babylonischen Talmud gelten Träume als ein gutes Omen für Kranke, weil sie Vitalität anzeigen: «Sechs Dinge sind für den Kranken ein gutes Zeichen, nämlich das Niesen, der Schweiß, der Durchfall, der Samenerguss, der Schlaf und der Traum» (Berachot 57b). Als biblische Belegstelle wird dabei auf den eingangs zitierten Vers Jeschajahu 38,16 verwiesen.

DEUTUNG Wenn wir an Träume im Tanach denken, kommt uns zunächst nicht König Chiskijahu in den Sinn, sondern Josef, «der Träumer». Seine Träume und seine Traumdeutung bilden die entscheidende Weichenstellung in der Geschichte Israels, um die Familie Jakows nach Ägypten zu bringen (um später von dort als mächtiges Volk herausgeführt zu werden).

Schon Josefs Großvater Jizchak empfing eine Segenszusage im Traum (1. Buch Mose 26,24), und besonders sein Vater Jakow hatte vor wichtigen Lebensentscheidungen intensive Träume: Auf der Flucht zu seinem Onkel Laban träumte er von der Himmelsleiter (28, 10–17), die eigenwillige Zuchtmethode zur Erzeugung gesprenkelter Schafe wurde ihm im Traum eingegeben (31, 10–13), auf dieselbe Weise erhielt er auch Gottes Ermunterung, mit der ganzen Familie zu Josef nach Ägypten zu ziehen (46, 2–4). Und Jakows Widersacher Laban erhielt im Traum eine göttliche Warnung.
Der erste Träumer des Tanach jedoch, darauf weist der israelische Schriftsteller Meir Shalev in seinem Buch Aller Anfang hin, war keine der großen Gestalten von Israels Ursprungsfamilie, sondern der Philisterkönig Abimelech, zu dem Gott im Traum redete und ihn vor einem verhängnisvollen Fehler bewahrte (20, 3–7).

WIEDERGÄNGER Als Josefs späterer Wiedergänger kann Daniel gelten («Und Daniel war kundig in allen Gesichten und Träumen», Daniel 1,17). Er erlangte am babylonischen Königshof Einfluss als Traumdeuter, indem er sogar die unerzählten Träume Nebukadnezars zunächst erriet und dann auslegte. Im Buch Daniel spielen Träume eine prominente Rolle, um einen Ausblick in die künftige Weltgeschichte zu geben: Der sprichwörtlich gewordene «Koloss auf tönernen Füßen» (Daniel 2), ein bis an den Himmel reichender Baum (Daniel 4) und vier Fabeltiere (Daniel 7) künden den bevorstehenden Sturz irdischer Königsmacht und die Errichtung von Gottes Herrschaft an.

Von den 64 ausdrücklichen Erwähnungen von Träumen im Tanach entfallen allein 33 auf das 1. Buch Mose und 27 auf das Buch Daniel. Also bleiben nur wenige Träume in anderen biblischen Büchern. Dazu gehört die Szene aus dem Richterbuch, als Gideon einen midianitischen Soldaten belauscht, der seinen Traum erzählt (Richter 7, 13–15), aber auch das Traumgespräch zwischen Gott und König Schlomo, in dessen Folge ihm Weisheit sowie Reichtum und Ehre verliehen werden (1. Könige 3, 5–15).

Daneben gibt es natürlich noch etliche «Nachtgesichte» (machasej lajla) und traum­artige Visionen, die Menschen im Schlaf und auch im Wachzustand zuteilwerden. Ob es sich bei Jakows nächtlichem Ringkampf vor der gefürchteten Begegnung mit seinem Bruder Esaw um ein Traumgeschehen handelt, hängt von der Auslegung dieser Szene ab.
Ein uns heute sehr geläufiges Symbol geht auf eine traumartige Weissagung an den Propheten Secharja zurück, der eine Menora mit je einem Ölbaum zur Rechten und zur Linken stehen sieht (4, 1–7) – dieses Bild gab die Vorlage für das Staatswappen Israels ab.

Die im Tanach erzählten Träume dienen als literarisches Stilmittel, um die Erzählung voranzutreiben. Sie geben zu verstehen, was in der nahen oder fernen Zukunft geschehen wird, und sie sind eine Antwort auf die Frage, wie Gott mit den Menschen kommuniziert. Die biblischen Berichte von Träumen machen klar, dass es sich hierbei nicht einfach um Versatzstücke von Erlebtem und Unterbewusstem handelt, sondern um ein Medium zum Empfang einer Nachricht von Gott: «Im Traum des Nachtgesichts, wenn Betäubung die Menschen befällt, im Schlummer auf dem Lager, da öffnet er das Ohr der Menschen» (Hiob 33,15).

Dass Gott mit den Menschen über Träume kommuniziert, und zwar mit breiten Schichten der Bevölkerung, kündigt auch der Prophet Joel an: «Und es wird nachher geschehen, da werde ich ausgießen meinen Geist über alles Fleisch, und es werden weissagen eure Söhne und eure Töchter, eure Alten werden Träume haben, eure Jünglinge werden Gesichte schauen» (Joel 3,1).

Nicht allein der Traum selbst, auch die Fähigkeit zu seiner Deutung kommt von Gott.

Aber ebenso sendet die Verweigerung einer göttlichen Offenbarung im Traum eine Botschaft aus, wie am verzweifelten Kampf des bereits von Gott verworfenen Königs Scha’ul um sein Königtum und sein Leben sichtbar wird: «Als Scha’ul das Lager der Pelischtim erblickte, fürchtete er sich, und das Herz bebte sehr. Und Scha’ul befragte den Ewigen, aber der Ewige antwortete ihm nicht, weder durch Träume noch durch die Urim noch durch die Propheten» (1. Schmuel 28, 5f).

ANWEISUNG Rabbiner Benno Jakob (1862–1945) unterscheidet in seinem Kommentar zum 1. Buch Mose zwischen Träumen, in denen Gott spricht, und jenen, mittels derer Gott spricht. In der erstgenannten Art von Träumen tritt Gott selbst auf, um eine Botschaft zu übermitteln, die Handlung voranzutreiben, zu verbieten oder zu warnen. Diese Träume bedürfen keiner Deutung, da sie eine klare Anweisung enthalten. Sie reden nicht in Gestalt von Traumbildern, sondern sind eigentlich direkte göttliche Ansprachen an einen Schlafenden.

Die zweite Gruppe von Träumen besteht aus Bildern, Gestalten, Vorgängen, die ein Schlafender sieht. Sie erfordern die Interpretation durch einen begabten Deuter. Dazu gehören zum Beispiel die stets paarweise auftretenden Träume in der Josefsgeschichte (sich verneigende Garben oder Himmelskörper, sieben fette und sieben magere Kühe, die Schicksale des Mundschenks und des Bäckers).

Auch Nebukadnezars Traumbilder fallen in diese Kategorie. Eine Mischform stellen Jakows Traum von der Himmelsleiter oder die Leuchtervision Secharjas dar, wo die Bildelemente der Deutung bedürfen, aber die verbale Botschaft durch Gott oder Engel klar ist.

Gleichwohl unterstreichen manche biblischen Texte, dass Träume eine minderwertigere Form der Prophetie sind. In der Geschwisterrivalität von Aharon und Mirjam gegen die herausgehobene Stellung ihres Bruders Mosche bringen diese vor, dass Gott auch zu ihnen gesprochen habe. Aber sie werden scharf zurechtgewiesen: «Und (der Ewige) sprach: Höret denn Meine Worte: Wenn unter euch ein Prophet des Ewigen ist – in der Erscheinung tue Ich mich ihm kund, im Traum rede Ich zu ihm. Nicht so Mein Knecht Mosche (…). Zu ihm rede Ich von Mund zu Mund und sichtbar, nicht in Rätseln, und das Abbild des Ewigen schaut er» (4. Buch Mose 12, 6–8).

Der Prophet Jirmijahu ist in seiner Bewertung noch harscher und hält jene, die Traumbotschaften Gottes verkünden, nahezu für Lügenpropheten: «Der Prophet, dem ein Traum geworden, erzähle den Traum; der aber, mit dem mein Wort ist, möge mein Wort der Wahrheit sprechen. Was soll das Stroh beim Korn?» (23,28). Sein Kollege Jeschajahu warnt uns, dass Träume manchmal tatsächlich nur Schäume sind: «Es geschieht, dass ein Hungriger träumt, er esse – er erwacht aber und leer ist sein Leib. Der Durstige träumt, dass er trinkt – er erwacht aber und siehe, er ist matt und seine Seele lechzt» (29,8).

GABE Nicht jeder Traum kann den Anspruch erheben, eine Nachricht von Gott zu sein, mitunter ist er nur ein Spiegel unserer eigenen Wünsche oder sogar eine Prüfung unseres Festhaltens an Gott.Nicht allein der Traum selbst, auch die Fähigkeit zu ihrer Deutung kommt von Gott. Die berühmtesten biblischen Traumdeuter, Josef und Daniel, sind sich stets der Quelle ihrer besonderen Begabung bewusst.

Josef antwortet dem Pharao auf dessen Auftrag, seinen Traum auszulegen: «Das steht nicht bei mir, Gott wird eröffnen, was dem Pharao frommt» (1. Buch Mose 41, 15f) – und dem stimmt nach der gehörten Deutung auch Pharao selbst zu («nachdem Gott dir kundgetan all dieses», 41,39). Daniel weiß, dass er ohne Gottes Hilfe keinen Traum erschließen kann, und bringt mit seinen Freunden ein Gebet um Erbarmen «wegen dieses Geheimnisses» dar. Auch in langen Vorreden zu seinen Traumdeutungen legt er dem König dar: «Das Geheime, welches der König fordert – nicht Weise, Sternseher, Zeichendeuter, Wahrsager vermögen es dem König zu eröffnen. Jedoch gibt es einen Gott im Himmel, Offenbarer der Geheimnisse, und der kundgetan hat dem König Nebukadnezar, was geschehen wird in der Zukunft der Tage» (Daniel 2, 27f).

SCHICHTEN Wenn Träume nicht schon innerbiblisch interpretiert werden, wie zum Beispiel in der Josefsgeschichte, gesellt sich dazu eine weitere Schicht der Traumdeutung, nämlich durch Bibelinterpretation. Das ist ein Versuch, dem Inhalt von Träumen nahezukommen, und so gibt es durch alle Schichten rabbinischer Literatur hindurch bis in die Gegenwart verschiedene Erklärungen, was denn die Engel auf der Himmelsleiter bedeuten sollen oder welche zerbrechenden Weltreiche im Danielbuch gemeint seien.

Nicht allein die Worte oder Bilder eines Traums sind entscheidend, sondern auch, wie wir ihn erzählen und verstehen (wollen). Der Malbim, Rabbiner Meir Leibusch (1809–1879), schrieb über Pharaos Mundschenk, dessen Traum Josef zugunsten von dessen Rehabilitierung deutete: «Es ziemt einem Menschen, besonders vorsichtig zu sein, wenn man beginnt, einen Traum zu erzählen. Der Mundschenk eröffnet seine Rede mit ›In meinem Traum‹ (bechalomi). Dies ist ein Ausdruck für ›von einer Krankheit genesen und bei guter Gesundheit sein‹ (…). Es ist darum nicht überraschend, dass er aus dem Kerker gerettet und in seine frühere Position wiedereingesetzt wurde. Dagegen beging der Bäcker den Fehler, ›af‹ (aber, jedoch) zu sagen, bevor er seinen Traum berichtete. Das Wort ›af‹ bedeutet auch ›Zorn‹, und in Folge wurde er zum Tode verurteilt und gehenkt» (zu 1. Buch Mose 40,9).

Über Träume und ihre Deutung im Tanach lernen wir, dass es nicht allein auf deren Inhalt ankommt, sondern auch darauf, wie wir sie erzählen. Nicht nur das, was uns widerfährt – beim Wachen wie beim Träumen –, ist entscheidend, sondern auch unser Narrativ davon.

Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde Hameln und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

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