Reflexion

Nachdenken erwünscht

»Der Denker« von Auguste Rodin Foto: dpa

Reflexion

Nachdenken erwünscht

Vor Jom Kippur müssen wir auch Glaubensgrundsätze hinterfragen

von Rabbiner Levi Brackman  17.09.2015 11:22 Uhr

Für Juden sind diese Tage eine Zeit der Selbstbesinnung und Selbsteinschätzung. Mit dem jüdischen Neujahr beginnt ein Zeitraum von zehn Tagen, der in Jom Kippur, dem Versöhnungstag, gipfelt.

Die Selbstbesinnung kann zwei Formen annehmen: das Nachdenken über unsere Lebensführung und das Nachdenken über unsere Denkweise und innere Einstellung. Ersteres konzentriert sich auf die Frage, wie wir als Menschen handeln, wie wir andere behandeln, was wir hervorbringen, und wie wir unser persönliches geistiges und moralisches Verhalten bewerten.

Die Reflexion über unsere innere Einstellung hingegen hat mit unseren Überzeugungen, Meinungen und Ansichten zu tun. Wir verbringen viel Zeit damit, darüber nachzudenken, wie wir im vergangenen Jahr gehandelt haben, während wir für die Überprüfung unserer Einstellungen und festen Anschauungen kaum Zeit haben.

Bekenntnisse Doch in den Bekenntnissen der Jom-Kippur-Liturgie wird Vergebung auch für solche Sünden gesucht, die wir durch unangemessene Gedanken und ein verwirrtes Herz begangen haben. Dies bezieht sich in meinen Augen auf die Sünden, die im Zusammenhang mit falschen Auffassungen und Meinungen stehen. Gehen wir doch ganz selbstverständlich davon aus, dass unsere Meinung und Gesinnung die richtige sein muss. Von den Menschen zu fordern, ihre tief verwurzelten Überzeugungen infrage zu stellen, ist besonders schwer in einer Gemeinschaft, die einen unbeirrten und bedingungslos dogmatischen Glauben verlangt.

Es gab aber eine Zeit, in der Juden offen dafür waren, ihren Glauben zu überprüfen. Im zehnten Jahrhundert schrieb der große jüdische Weise Saadia Gaon ein Buch mit dem Titel Das Buch der Überzeugungen und Meinungen, in dem er die jüdische Lehre einer genauen Überprüfung unterzog. Im zwölften Jahrhundert verfasste Maimonides seine bahnbrechende Arbeit Führer der Unschlüssigen, in der er bestimmte jüdische Glaubensartikel und theologische Ideen radikal umdefinierte. Im elften Jahrhundert ließ der jüdische Ethiker und Philosoph Bachja ibn Pakuda keinen Zweifel daran, dass es notwendig sei, die Grundlagen des Glaubens sorgfältig und kritisch zu hinterfragen.

Das Ergebnis dieser Art von Reflexion war ein wirklicher Fortschritt in unserer Lehre und unseren religiösen Vorstellungen. Wenn etwa Maimonides zu dem Schluss kam, dass es falsch war, Gott menschliche Attribute zuzuschreiben – trotz der Tatsache, dass andere große Rabbiner anderer Meinung waren –, machte er seinen Standpunkt öffentlich bekannt, und im Laufe der Zeit änderten sich maßgebende Glaubensvorstellungen im Sinne der neuen Erkenntnisse von Maimonides.

Tabu Im Hochmittelalter aber wurde diese Tradition, über Glaubensfragen und die herrschende Lehre nachzudenken, allmählich zu einem Tabu. In vielen Kreisen galt es als unratsam, Bücher zu lesen, die Fragen des Glaubens und der Religion analysierten, selbst wenn sie von Geistesgrößen wie Maimonides und Saadia Gaon verfasst worden waren.

Und das hat sich bis auf den heutigen Tag fortgesetzt. In einer kommentierten Ausgabe von Bachja ibn Pakudas Pflichten des Herzens, die vor etwa 50 Jahren in Jerusalem erschien, ergänzt der zeitgenössische Kommentator den Text um viele Seiten mit Warnungen an den Leser, er solle doch nicht solche Abschnitte lesen, die sich mit Fragen des Glaubens beschäftigen. Unnötig zu sagen, dass diese Abschnitte keinerlei Kommentare oder Anmerkungen aufweisen.

In einigen religiösen Kreisen steht man einer kritischen Reflexion von religiösen Sätzen und Glaubensartikeln feindlich gegenüber. Als ich vor beinahe zwei Jahrzehnten Jeschiwa-Student war, drohte einer der höchstangesehenen Lehrer, nie wieder mit mir zu sprechen, sollte ich ein Buch lesen, das jüdische Überzeugungen und Meinungen unter die Lupe nimmt, einschließlich rabbinischer Texte.

Doch der endemische Mangel an Selbstreflexion, wenn es um Fragen des Glaubens und der Lehre geht, ist zutiefst problematisch. Wenn sich ein Irrglaube breitmacht, gibt es keinen Mechanismus, ihn zu entfernen oder zu korrigieren. Obwohl ich an dieser Stelle keine bestimmte Doktrin vor Augen habe, gibt es ohne Zweifel eine ganze Reihe etablierter Glaubensgrundsätze, die es wert sind, einer gründlichen Reflexion und ehrlichen Neubewertung unterzogen zu werden.

Charakter Wenn es um die Verbesserung unseres Charakters geht, sagt das Judentum, dass wir dabei Fortschritte machen können – wenn wir uns bewusst die Zeit nehmen (und das vor allem an den Hohen Feiertagen), über unsere Taten nachzudenken und schädliche oder negative Praktiken und Verhaltensweisen, die sich eingeschlichen haben, zu identifizieren und beseitigen.

Das Gleiche gilt, wenn wir als Volk Fortschritte machen wollen. Um damit erfolgreich zu sein, darf kein Element tabu sein für diese Art der kritischen Reflexion – auch wenn es schwerfällt.

Übersetzung und Abdruck des Textes mit freundlicher Genehmigung von www.levibrackman.com

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