Talmudisches

Milde im himmlischen Gericht

Ausgewogenes Urteil Foto: Getty Images

Talmudisches

Milde im himmlischen Gericht

Wer vergisst, was andere ihm angetan haben, wird nachsichtig beurteilt

von Yizhak Ahren  02.12.2022 09:42 Uhr

Der babylonische Amoräer Rawa leitete aus einem Vers aus dem Tanach ab, in welchen Fällen Gott über Menschen milde urteilt: »Rawa sagte: ›Wer Unrecht übergeht, bei dem übergeht man all seine Sünden.‹ Denn es heißt (Micha 7,18): ›Er vergibt die Sünde und übergeht die Schuld‹« (Rosch Haschana 17a). Der Ewige ist also dann zu einer nachsichtigen Beurteilung eines Menschen bereit, wenn der es fertiggebracht hat zu vergessen, was andere ihm angetan haben, und ihnen zu vergeben.

Um dies zu illustrieren, erzählt der Talmud von Rav Huna, der erkrankt war: »Als Rav Papa ihn besuchte (…), sah er, dass es dem Kranken äußerst schlecht ging. Da sprach er: ›Bereitet für ihn das Totengewand.‹ Doch Rav Huna wurde wieder gesund, und Rav Papa schämte sich, vor ihm zu erscheinen. Man fragte Rav Huna: ›Wie ist es dir ergangen?‹ Er erwiderte: ›In der Tat war mein Ende gekommen, nur sprach der Heilige, gepriesen sei Er: Da er nicht auf seinem Recht bestand, so nehmt es auch mit ihm nicht genau.‹« Rav Papa hatte demnach den Zustand des Kranken richtig eingeschätzt; nur konnte er den Einspruch des Ewigen zugunsten von Rav Huna, der Unrecht übergangen hatte, nicht vorhersehen.

UNRECHT Im Traktat Taanit (25b) finden wir eine Geschichte, in der die Tatsache, dass jemand Unrecht übergangen hatte, ebenfalls von entscheidender Bedeutung ist: »Es ereignete sich einst, dass Rabbi Eliezer vor die Lade trat und 24 Segenssprüche sagte; er wurde aber nicht erhört. Alsdann trat Rabbi Akiwa vor die Lade und sprach: ›Unser Vater und König, wir haben keinen König außer Dir! Unser Vater, unser König, Deinetwegen erbarme Dich unser!‹ Da fiel Regen nieder! Als manche Leute den Schluss zogen, Rabbi Akiwa sei bedeutender, ertönte eine Hallstimme und sprach: ›Nicht etwa, dass dieser bedeutender wäre als jener, sondern weil dieser Unrecht übergangen hat, jener aber nicht.‹«

Was die Stimme verkündete, bedarf einer Erklärung. Denn wenn Rabbi Akiwa Unrecht übergangen hatte, Rabbi Eliezer jedoch nicht – war dann Akiwa nicht bedeutender? Um diesen Einwand zu entkräften, müssen wir annehmen, dass beide Tannaiten korrekt gehandelt haben.

Rabbi Eliezer Ben Hyrkanos folgte der Tradition der Schule von Schammai und sein Schüler Rabbi Akiwa der von Hillel. Da beide Haltungen legitim sind, wäre es nicht richtig zu behaupten, dass Rabbi Akiwa bedeutender war als sein Lehrer. Warum aber erhörte Gott Rabbi Akiwas Gebet und nicht das Flehen des Lehrers? Weil Rabbi Akiwa Unrecht übergangen hatte, zeigte der Ewige Nachsicht, als dieser um Regen bat.

VERDIENSTE Die Bedeutung des Übergehens finden wir auch in einem anderen Zusammenhang erwähnt: »Rabbi Akiwa fragte Rabbi Nechunja den Großen: ›Durch welche Verdienste wurde dir ein langes Leben gewährt?‹ Er erwiderte: ›Nie im Leben habe ich Geschenke angenommen, nie bestand ich auf meinem Recht, und ich war freigiebig mit meinem Geld‹« (Megilla 28a).

Wieso wird es als verdienstvoll gesehen, Unrecht zu übergehen? Dies sollte doch selbstverständlich sein, denn die Tora verbietet ausdrücklich, Rache zu nehmen und zu grollen (3. Buch Mose 19,18).

Aus der Gemara (Joma 23a) geht hervor, dass die zwei genannten Verbote nur dann übertreten werden, wenn es sich um materielle Angelegenheiten handelt. Im Falle einer Verletzung oder Beleidigung sind Nachtragen und Grollen nicht untersagt. Jedoch gilt es als fromm, auch in solchen Situationen Unrecht zu übergehen.

ZÜCHTIGUNG In einer Barajta lesen wir (Gittin 36b): »Die Rabbanan lehrten: Über diejenigen, die beschämt werden und nicht beschämen, ihre Beschimpfung anhören und nicht antworten, aus Liebe handeln und sich der Züchtigungen freuen, heißt es: ›Die ihn lieben, sind wie der Aufgang der Sonne in ihrer Pracht‹« (Richter 5,31).

Wie hoch es einzuschätzen ist, Unrecht zu übergehen, beweist auch folgende Talmudpassage: »Drei liebt der Heilige, gepriesen sei Er: Wer nicht in Zorn gerät, wer sich nicht betrinkt und wer nicht auf seinem Recht besteht« (Pessachim 113b).

Welcher Mensch möchte nicht von Gott geliebt werden, ein langes Leben haben und im himmlischen Gericht mit Nachsicht beurteilt werden? Er sollte nicht auf seinem Recht bestehen und auf Schmähungen nicht antworten.

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