Talmudisches

Mehr Zeit fürs Toralernen

Die Weisen lehren, man solle sich beim Anstreben der Tora-Krone ein wenig von »Derech Eretz« distanzieren. Foto: dpa

Talmudisches

Mehr Zeit fürs Toralernen

Welchen Bereich des Lebens man einschränken sollte, um intensiver studieren zu können

von Yizhak Ahren  03.09.2020 12:19 Uhr

In einer Barajta (Sprüche der Väter 6,6) werden 48 Dinge aufgelistet, durch die die Tora erworben wird. Eines der Mittel, die man beim Anstreben der Tora-Krone durch Selbstarbeit erringen muss, lautet: »Einschränkung von Derech Eretz«. Wörtlich übersetzt bedeutet Derech Eretz: Weg des Landes. Aber was meinte der Verfasser der Barajta? Welche Aktivität ist einzuschränken? Auf diese Frage sind verschiedene Antworten gegeben worden.

Lebensunterhalt Der Maharal von Prag, Rabbi Jehuda Löw (1520–1609), meint, die Barajta fordere dazu auf, die normale Arbeit (hebräisch: Melacha) einzuschränken, die notwendig ist, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Je weniger Stunden ein Jude am Arbeitsplatz verbringt, desto mehr Zeit bleibt ihm fürs Torastudium.

Doch der Maharal erwähnt auch einen möglichen Einwand gegen diese Erklärung. Die Liste der 48 Dinge enthält nämlich auch den Punkt »Beschränkung im Handel« (hebräisch: Sechora). Ist diese Einschränkung nicht identisch mit »Beschränkung von Lohnarbeit«? Zur Entkräftung des Einwands stellt der Maharal fest, dass Sechora und Melacha nicht voneinander abzuleiten sind. Da es heißt: »Ohne Derech Eretz keine Tora« (Sprüche der Väter 3,21), muss die Einschränkung von Derech Eretz ausdrücklich genannt werden. Und die Beschränkung von Sechora muss deshalb erwähnt werden, weil Handel weniger Zeit in Anspruch nimmt als Lohnarbeit – trotzdem soll man die Handelszeit knapp halten.

Geschlechtsverkehr Ein Talmudkommentator aus dem 13. Jahrhundert, Rabbi Menachem Ben Schlomo Me’iri, sieht in »Einschränkung von Derech Eretz« einen anderen Lebensbereich angesprochen als die Arbeits- und Handelswelt. Nach seiner Interpretation bedeutet Derech Eretz in unserer Barajta Geschlechtsverkehr.

Um Tora zu erwerben, soll die erlaubte sexuelle Aktivität eingeschränkt werden. Unsere Barajta fordert keine Enthaltsamkeit, sondern eine Form der Selbstheiligung.

Derech Eretz als Bezeichnung des Intimlebens von Mann und Frau kommt übrigens bereits in der Tora vor, in der Geschichte von Lots Töchtern: »Da sprach die Ältere zur Jüngeren: Unser Vater ist alt, und kein Mann ist mehr auf Erden, um zu uns zu kommen nach der Weise aller Welt« (1. Buch Mose 19,31). Auch im Talmud (Joma 74b) wird Derech Eretz in diesem Sinne ausgelegt.

Von einem Zeitgenossen, Rabbi Hillel Goldberg aus Denver, stammt eine psychologische Erklärung des Zusammenhangs von eingeschränkter Sexualität und Tora-Erwerb. Er führt aus, eine gesunde Limitierung des Geschlechtslebens verhindere diverse Fehlentwicklungen und schaffe eine existenzielle Befriedigung, die förderlich sei für die Aneignung der Tora.

Eine dritte Möglichkeit, »Derech Eretz« zu übersetzen, verdanken wir Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888): »Beschränkung in bürgerlichen Angelegenheiten«. Er erläutert seine Auffassung: »Das ganze irdische Einzel- und Gesamtleben bildet den Gegenstand der Tora-Wissenschaft. In das menschengesellschaftliche Bürgerliche einzugehen und sich mit dessen Angelegenheiten zu beschäftigen, gehört daher nicht nur zu den nicht zu vernachlässigenden Pflichttätigkeiten, sondern gewährt auch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu der von der Wissenschaft geforderten Sachkenntnis. Aber auch hier ist die Beschränkung notwendig, wenn Zeit, Geistesklarheit und Gemütsruhe für die Pflege der Wissenschaft gewahrt bleiben soll.«

Es wäre falsch, an dieser Stelle die Frage aufzuwerfen, welche der drei besprochenen Übersetzungen die richtige sei. Denn alle drei sind wohlbegründet und beachtenswert! Allenfalls kann jeder von uns sagen: Mir gefällt eine bestimmte Deutung besonders gut.

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025

Ki Teze

In Seinem Ebenbild

Was der Tanach über die gesellschaftliche Stellung von Frauen sagt

von Rabbinerin Yael Deusel  04.09.2025

Anti-Judaismus

Friedman: Kirche hat »erste globale Fake News« verbreitet

Der gebürtige Pariser warnte zudem vor weltweiten autokratischen Tendenzen und dem Verlust der Freiheit

 02.09.2025

Schoftim

Recht sprechen

Eine Gesellschaft hat nur dann eine Zukunft, wenn sie sich an ihrer moralischen Gesetzgebung orientiert

von Rabbiner Avraham Radbil  29.08.2025

Talmudisches

Der heimliche Verbrecher

Über Menschen, die nicht aus Wahrheit, sondern aus Selbstdarstellung handeln

von Vyacheslav Dobrovych  29.08.2025

Kiddusch Haschem

»Ich wurde als Jude geboren. Ich werde als Jude sterben«

Yarden Bibas weigerte sich gegenüber den Terroristen, seinen Glauben abzulegen. Wie viele vor ihm lehnte er eine Konversion ab, auch wenn ihn dies beinahe das Leben gekostet hätte

von Rabbiner Dovid Gernetz  28.08.2025

Israel

Rabbiner verhindert Anschlag auf Generalstaatsanwältin

Ein Mann hatte den früheren Oberrabbiner Jitzchak Josef um dessen religiöse Zustimmung zur »Tötung eines Aggressors« ersucht. Die Hintergründe

 26.08.2025 Aktualisiert