Talmudisches

Krankenbesuch beim Lehrer

Als Rabbi Elieser ben Hyrkanos erkrankte, besuchten ihn Rabbi Akiwa und seine Genossen (Sanhedrin 68a). Foto: Getty Images

Rabbi Jochanan ben Sakkai hatte Rabbi Elieser ben Hyrkanos unter seinen Schülern am meisten geschätzt. Und doch wurde später der Bann (hebräisch: Nidui) gegen Rabbi Elieser verhängt (Baba Mezia 59b). Dem geächteten Rabbi bereitete dies Kummer: »Als er erkrankte, besuchten ihn Rabbi Akiwa und seine Genossen. Er saß auf seinem Himmelbett, und sie saßen im Vorzimmer« (Sanhedrin 68a).

Die Besucher wussten wohl nicht, ob der schwerkranke Lehrer noch in der Lage war, sie zu empfangen. Da wurden sie Zeugen einer unangenehmen Szene. »Es war ein Vorabend des Schabbats, und sein Sohn Hyrkanos trat ein, um ihm (vor Schabbatbeginn) die Tefillin abzunehmen. Da schrie ihn der Vater an, und dieser (der Sohn) entfernte sich. Da sprach er zu den Besuchern: ›Ich glaube, der Sinn meines Vaters ist verwirrt!‹ Da rief jener: ›Sein Sinn und der Sinn seiner Mutter sind verwirrt! Sie achten nicht auf Verbote der Tora und kümmern sich nur um Dinge, die rabbinisch verboten sind.‹«

Der Zeitpunkt des Krankenbesuchs mag uns unpassend erscheinen. Vermutlich haben die Weisen angenommen, jetzt sei die letzte Gelegenheit, mit Rabbi Elieser zu sprechen.

NIDUI Was machten die Besucher? »Als die Weisen erkannten, dass er bei Sinnen war, traten sie ein und setzten sich vor ihn in einer Entfernung von vier Ellen.« Wortlos gaben sie Rabbi Elieser zu verstehen, dass der Nidui immer noch gilt und Besucher deshalb nicht in seiner unmittelbaren Nähe weilen dürfen. »Da fragte er sie: ›Wozu seid ihr gekommen?‹ – ›Wir sind gekommen, um Tora zu lernen.‹ Er entgegnete: ›Weshalb seid ihr bisher nicht gekommen?‹ Sie erwiderten: ›Wir hatten keine Zeit.‹« Diese Ausrede war offensichtlich eine Verlegenheitslüge, fast schon ein Schuldbekenntnis.

Wie reagierte Rabbi Elieser? »Er entgegnete: ›Es würde mich wundern, wenn sie (die anwesenden Weisen) eines natürlichen Todes sterben sollten!‹ Rabbi Akiwa wollte wissen: ›Welcher Tod ist mir beschieden?‹ – ›Deiner wird schwerer sein als ihrer.‹« Raschi erklärt Rabbi Eliesers barsche Antwort wie folgt: »Denn du bist sehr begabt. Wärst du bei mir geblieben, hättest du viel Tora gelernt!«

Sodann gab Rabbi Elieser Einblick in die Tragik seines Lebens: »Er legte beide Arme aufs Herz und sprach: ›Wehe euch, meine beiden Arme, ihr gleicht zwei Torarollen, die zusammengerollt bleiben. Viel Tora habe ich gelernt, und viel Tora habe ich gelehrt. Viel Tora habe ich gelernt, jedoch meinen Lehrern nicht einmal so viel abgenommen wie ein Hund, der aus dem Meer leckt. Viel Tora habe ich gelehrt, jedoch haben meine Schüler mir nur so viel abgenommen, wie ein Pinsel der Farbtube entnimmt. Ich lehre 300 Lehren über den weißen Aussatzfleck, aber niemals hat mich jemand darüber befragt. Und nicht nur das, ich lehre auch 300 Lehren über das Gurkenpflanzen (durch Zauberei), ohne dass mich jemals einer darüber befragt hätte, außer Akiwa Ben Josef.‹«

torawissen Der enttäuschte Lehrer beklagte die bedauernswerte Tatsache, dass sein enormes Torawissen mit ihm ins Grab sinken werde. Der Talmud berichtet, dass die Besucher Rabbi Elieser nach dieser bewegenden Klage drei halachische Fragen stellten, die sich auf bestimmte Probleme von Reinheit und Unreinheit bezogen.

Warum gerade diese Fragen? Raschi erläutert, dass die Gelehrten wissen wollten, ob der Kranke immer noch seine früher geäußerten Ansichten vertrete. Sie konnten feststellen, dass er seine Lehrmeinung nicht geändert hat. Bei der Beantwortung der letzten Frage starb Rabbi Elieser in Anwesenheit der gelehrten Besucher. Sein letztes Wort lautete: »rein«. »Da stellte sich Rabbi Jehoschua hin und sagte: Der Nidui ist aufgehoben!«

Was für einen Sinn hatte es, den Bann nach dem Tod von Rabbi Elieser aufzuheben? Die Antwort lautet: Ohne Rabbi Jehoschuas Deklaration hätte man dem Verstorbenen kein ehrenvolles Begräbnis bereiten dürfen (Rambam, Hilchot Talmud Tora 7,4). Durch die offizielle Aufhebung des Banns wurde Rabbi Elieser wieder in den Kreis der Weisen Israels aufgenommen, deren Tora-Auslegungen wir bis heute studieren.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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