Neulich beim Kiddusch

Klub der kranken Beter

So vielfältig wie die Leiden der Menschen sind auch die Mittel dagegen. Foto: imago

Hamburg Hauptbahnhof. Ich steige aus dem Zug, fahre die Rolltreppe herauf und verlasse das Gebäude nach draußen in Richtung der Taxis. Dort kommt ein Mann auf mich zu. Im Vorübergehen flüstert er: »Valiumderivate«. Ich verstehe zunächst nicht genau, was er meint und rufe: »Was?« hinterher. Der Mann mit den langen Haaren dreht sich um, er sieht ein bisschen genervt aus, und wiederholt: »Valiumderivate oder andere BTM-pflichtige Medikamente«. Sah ich so fertig aus nach der Zugfahrt? »Ich bin Jude«, sagte ich zu ihm. »An so etwas komme ich selbst ran« und ging weiter.

Vermutlich arbeitet der Mann jetzt an seiner Konversion. Aber etwas übertrieben hatte ich doch. Betäubungsmittel in dem Sinne wurden mir noch nie angeboten. Tatsächlich ist es so, dass es in einer Gemeinde, die ich kenne, mittlerweile einen Tisch gibt, an dem Medikamente getauscht werden. Herausgefunden hatte ich das, nachdem ich einige Zeit krank war und mich wieder beim Kiddusch blicken ließ.

»Sie waren krank? Hoffentlich nichts Ernstes.« Um nicht unhöflich zu sein, umriss ich kurz den Status meines Befindens und die ärztliche Behandlung. Allerhöchstens zehn bis zwölf Sätze. Ich fehlte mit Attest, wollte ich damit sagen.

symptome Tatsächlich aber schien sich mein Gegenüber sehr eingehend für die Behandlung zu interessieren. Er wollte wissen, was für Tabletten ich bekommen hatte, ob welche übrig geblieben seien, und ob ich die wohl beim nächsten Mal mitbringen könnte. Ob er auch krank sei, wollte ich wissen. »Wer weiß«, sagte er. »Ich werde schon irgendwann die entsprechenden Symptome entwickeln, oder ich tausche die Tabletten gegen welche, die zu meinen Symptomen passen.«

Jetzt sah ich, das andere Tischnachbarn in ihren Taschen kramten und einander kleine Verpackungen zuschoben. Medikamente gegen Kreislaufprobleme wurden gegen diverse Auflösetabletten getauscht. Mit der Frage »Gegen was sind die?« offenbarte ich in aller Naivität, dass ich noch nicht zum inneren Kreis des Tauschzirkels gehörte. Die Dame, die gerade die kleinen runden Auflösetabletten in Empfang nahm, erklärte mir, dass sie die großen nicht herunterbekomme. Die zum Auflösen seien viel einfacher einzunehmen, sagte sie. Nachdem ich diese grünen Tabletten mitbrachte, war ich Mitglied des Medikamentenzirkels.

Besserwisser Früher kamen übrigens noch ein paar Ärzte zum Kiddusch. Besserwisser waren das. Stellten ständig falsche Diagnosen. Im Internet hatten wir ganz andere Diagnosen bekommen! Die hatten wirklich keine Ahnung. Zudem behaupteten sie, Selbstmedikation sei nicht der beste Weg, um gesund zu werden. Natürlich mussten sie das behaupten. Wir waren ja die mutigen Brecher ihres Meinungsmonopols!

Vermutlich haben die Quacksalber jetzt irgendwo eine eigene Synagoge eröffnet. Sie kommen nicht mehr zu uns, vermutlich, weil wir sie immer nach der privaten Handynummer gefragt haben. Auch wenn sie nicht immer richtig lagen mit ihrer Diagnose, so konnte ich ihnen bisher immer den Ausdruck der Internetseite vorlegen und ihnen sagen, welche Rezepte sie mir ausstellen sollten. Übrigens kann ich jetzt nachts viel länger wach bleiben. Seitdem ich die kleinen roten Tabletten nehme, komme ich mit viel weniger Schlaf aus.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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