Homosexualität

Kann denn Liebe Sünde sein?

Jeder, der in einem auf der Bibel beruhenden religiösen Glauben erzogen wurde, hört die Botschaft: Homosexualität ist böse. Foto: Fotolia

Die Bibel, der Chumasch, war im Laufe der Jahrhunderte für viele Menschen eine Quelle der Inspiration. Sie half ihnen in ihrem Streben nach Anstand, Güte und Gerechtigkeit. Sie diente aber auch als Vorwand für Grausamkeit und Gewalt und brachte viel Leid und Verzweiflung. Im Namen dieses Buches haben viele Menschen großartige Dinge vollbracht. Andere vollbrachten schändliche Taten in seinem Namen.

Im 1. Buch Moses, in der Parascha Wajera, lernen wir die Stadt Sodom kennen, einen Ort großer Niedertracht und Verdorbenheit. Wir erfahren aus dem Teil der Parascha nicht, worin genau die Verdorbenheit der Stadt bestand, doch wird uns später mitgeteilt, dass die Männer Sodoms nicht nur ungastlich, brutal und grausam waren – sondern auch homosexuell.

Nun, wir haben es hier mit der Bibel zu tun. Sie verfügt über große Autorität. Und indem sie eine Metropole der Niedertracht und Verdorbenheit, einen Ort, der so schrecklich ist, dass er die absichtsvolle Zerstörung durch Gott verdient, mit Homosexualität in Zusammenhang bringt, macht die Bibel deutlich, was sie über Menschen denkt, die sich eines solchen Verhaltens schuldig machen. Sie sind es nicht wert, zu leben.

Es gibt nicht sehr viele Texte in der Bibel, die Homosexualität erwähnen oder darauf Bezug nehmen, doch wie der hier vorliegende scheint jeder einzelne von ihnen sie zu verdammen. So überrascht es nicht, dass jeder, der in einem auf der Bibel beruhenden religiösen Glauben erzogen wurde, egal ob es sich um das Judentum, Christentum oder den Islam handelt, die eindeutige Botschaft hört: Homosexualität ist böse. Nicht nur böse, sondern wirklich böse.

Verzweiflung Man denke an das Leid und die Verzweiflung, die diese Verdammung über die Jahrhunderte hervorgerufen hat! Männer und Frauen, die sich von Menschen ihres eigenen Geschlechts und nicht von solchen des anderen Geschlechts angezogen fühlten – ansonsten anständige, liebenswürdige und moralische Individuen –, wurden verspottet, verleumdet und verfolgt. Und es geschieht auch noch in unserer heutigen Zeit.

Vor Kurzem fand ein junger homosexueller Student an der Rutgers University, der sich nicht als homosexuell geoutet hatte, heraus, dass sein Mitbewohner ihn heimlich in seinem Zimmer gefilmt hatte. Er sprang später von der George-Washington-Brücke in den Tod.

Selbstmorde junger Männer und Frauen, die entdecken, dass sie homosexuell sind, kommen häufiger vor, als man glaubt – in manchen Fällen ist es die traditionelle Verurteilung durch ihre Religion, was die jungen Leute in den Selbstmord treibt.

Steven Greenberg, ein bekennender homosexueller orthodoxer Rabbiner, diskutierte vor einiger Zeit mit einem bekannten und respektierten jüdischen Religionsführer. Greenberg sprach von den vielen jüdischen homosexuellen Männern und Frauen, die der Tora ergeben seien und denen großes Leid widerfahre. »Viele verlassen die Gemeinde«, sagte er. »Einige junge homosexuelle Menschen«, fuhr er fort, »sind so verzweifelt, dass sie sich umzubringen versuchen.« Und was erwiderte der Rabbiner? »Vielleicht vollbringen sie damit eine Mizwa.« (Jewish Week, 15. Oktober 2010.)

Nun ist diese Reaktion sicherlich extrem. Aber sie enthüllt auch eine einfache Wahrheit. In Greenbergs Worten wäre es vielen Religiösen am liebsten, »wenn Homosexuelle auf die eine oder eine andere Art und Weise einfach verschwinden würden«. Die Reaktion auf diese Antipathie liegt auf der Hand: »Wenn junge Homosexuelle allmählich begreifen, wie intensiv der Wunsch der Gemeinde ist, dass sie verschwinden, wie brutal es sein kann, scheint der Freitod ein letzter, verzweifelter Ausweg, wie wir es allein im letzten Monat einige Male erlebt haben.«

Widerstand Das Unbehagen, das Homosexualität in vielen religiösen Menschen hervorruft, hat eine erstaunliche Macht über sie. Es wird niemanden überraschen, dass in Israel, dem Zentrum der drei abrahamitischen Religionen, interreligiöse Gefälligkeiten nicht gerade an der Tagesordnung sind. In Jerusalem gehen religiöse Christen, Muslime und Juden auf der Straße aneinander vorbei, ohne dass ein Kontakt zwischen ihnen stattfindet, von einem konstruktiven Gespräch ganz zu schweigen. Doch vor einigen Jahren gelang es Vertretern der jüdischen, christlichen und muslimischen Glaubensgemeinschaft sich zu verständigen, darauf nämlich, dass es in den Straßen Jerusalems keine Gay-Pride-Parade geben darf.

Die säkulare Gesellschaft, zu der wir gehören, ist sich des intensiven religiösen Widerstands gegen Homosexualität bewusst. Er beeinflusst uns alle.

Innerhalb der Gesellschaft als Ganzes hat es in den letzten Jahren enorme Fortschritte gegeben. Immer mehr Menschen begreifen, dass es keine Sünde ist, homosexuell zu sein; dass Homosexualität (wie in der Erzählung von der Stadt Sodom) genauso wenig mit Verdorbenheit in Verbindung gebracht werden darf wie Heterosexualität. Nichtsdestoweniger bestehen das hergebrachte Misstrauen und die alte Feindschaft weiter fort.

Anzeige Vor einigen Wochen sandte ein junges Paar die Bekanntmachung seiner bevorstehenden Hochzeit an eine lokale jüdische Zeitung. Beide Partner wuchsen in konservativen jüdischen Familien auf; sie lernten sich in einem jüdischen Sommercamp kennen; beide engagieren sich intensiv im jüdischen Gemeindeleben – einer von ihnen gewann ein Wexner-Stipendium, das ich auch erhielt, als ich an der Rabbinatsschule studierte. Nach einigem Zögern druckte die Zeitung die Anzeige. Das Paar ist homosexuell, und es war das erste Mal, dass die Zeitung eine solche Anzeige brachte.

Was dann geschah, machte aus einer simplen Angelegenheit eine nationale Nachrichten-Story. Lokale orthodoxe Rabbiner beschwerten sich bei der Redaktion, und eine Woche später entschuldigte sich die Zeitung für »das Leid und die Bestürzung«, die die Anzeige den Mitgliedern der orthodoxen Gemeinde gebracht habe. Die Redaktion versprach, keine Anzeigen dieser Art mehr zu drucken.

Das heizte die Sache natürlich erst recht an! Rabbiner der Konservativen sowie der Reform- und Reconstructionist-Richtung äußerten sich zu dem Fall, genau wie viele Normalbürger, die fragten, ob die Zeitung sich bewusst sei, wie viel »Leid und Bestürzung« dem Paar durch ihren Rückzieher zugefügt worden sei. Die Zeitungsmacher hörten den Aufschrei offensichtlich klar und deutlich, denn in der folgenden Woche gaben sie eine Stellungnahme heraus, in der sie ihre geänderte Meinung erneut änderten. Im Text hieß es, die Redaktion habe womöglich zu übereilt gehandelt und nur auf einen Teil ihrer Leserschaft gehört (New York Times, 6. Oktober 2010).

Ich erzähle diese Geschichte nicht, um die Redakteure zu verurteilen. Sie tun mir leid. Schließlich riskieren sie, ihre Arbeit zu verlieren, wenn sie die Orthodoxen vor den Kopf stoßen. Andererseits riskieren sie ihren Job, wenn sie ihre linksliberale Leserschaft vor den Kopf stoßen. Und drittens könnte es sein, dass es sich um ein Thema handelt, zu dem sie Stellung beziehen müssen – so oder so. Die Redakteure der Zeitung hätten wissen können und wissen müssen, dass ihre ursprüngliche Entscheidung umstritten sein würde. Doch ihre unschlüssige Reaktion ist nichts Ungewöhnliches. Es handelt sich um ein zentrales sozialpolitisches Thema unserer Zeit: politisches Gift in der amerikanischen Politik.

postkarte Was sollte die Rolle der religiösen Autoritäten in diesem Zusammenhang sein? Hier ist eine mögliche Reaktion: Vor Kurzem erhielt ich eine Postkarte. »Alarm! Alarm! Alarm!« stand darauf. »Führe deine Herde – schütze die Religionsfreiheit!« Diese Postkarte beschwört mich und meine Kollegen, uns die Männer und Frauen, die in unserem Bezirk für ein politisches Amt kandidieren, genau anzusehen und ihre Meinung zu den »großen ethischen Fragen« unserer Zeit festzuhalten. Danach sollten wir Orientierungshilfen zur Wahl in unseren Gemeinden verteilen, um alle Mitglieder über diese Ansichten zu informieren.

Was nun sind die großen ethischen Fragen unserer Zeit, die einen solchen Aufwand wert sind? »Die gleichgeschlechtliche ›Ehe‹, die Heiligkeit des Lebens und religiöse Freiheit.« (Die Postkarte wurde mir von der National Organization for Marriage geschickt, »gegründet, um sowohl die traditionelle Ehe zwischen einem Mann und einer Frau als auch jene Glaubensgemeinschaften zu schützen, die diese Ehe aufrechterhalten«.)

Mehrdeutigkeit Ich gehe anders an das Thema heran. Aus meiner Sicht müssen wir unser Bewusstsein von der automatischen, selbstgerecht-empörten Verurteilung der Homosexualität reinigen, wenn wir jemals in einer Welt leben wollen, in der junge Menschen, Männer und Frauen, sich ihrer sexuellen Orientierung nicht zu schämen brauchen. In dieser Sache können wir es uns nicht leisten, mehrdeutige Antworten zu geben. Es ist eine Sache, die über Leben oder Tod entscheidet.

Doch auch wenn sie das nicht wäre, möchte ich, dass wir offen und ehrlich sind und das ganze Spektrum sexueller Orientierungen in unserer Gemeinschaft willkommen heißen. Einfach deswegen, weil es das Richtige ist. Wir verstehen Sexualität anders, als unsere Vorfahren sie verstanden.

Das soll nicht heißen, dass jede denkbare Ausdrucksform sexuellen Verlangens innerhalb des Judentums akzeptabel wäre. Das ist nicht der Fall. Die Art, wie die moderne Gesellschaft mit Sexualität umgeht, hat viele Aspekte, zum Beispiel der allgegenwärtige Mangel an Anstand, die höchst anstößig sind.

Doch diese fragwürdigen Aspekte beschränken sich weiß Gott nicht auf homosexuelle Zusammenhänge. Wir alle wissen, dass Pornografie in unserem Land nicht annähernd so rentabel wäre, würde sie sich ausschließlich an Homosexuelle richten.

Homosexuelle werden noch immer verleumdet und verurteil und verfolgt. Wir müssen laut und deutlich aussprechen, dass wir glauben, die Bigotterie der Vergangenheit sollte eine Sache der Vergangenheit bleiben; dass wir glauben, andere Botschaften, die unsere religiöse Tradition ebenso betont, nämlich Botschaften des Respekts vor dem Anderen und der Liebe zum Anderen, müssten unangefochten an erster Stelle stehen. Wir alle, die sich Sorgen machen, welche Rolle die Religion in unserer Gesellschaft spielen soll, müssen mit offenen Karten spielen. Es ist nicht länger annehmbar zu sagen: »Es steht nun mal so in der Bibel. Es gibt nichts, was ich dagegen tun kann!« Wir müssen es explizit aussprechen: Homosexualität ist keine Sünde. Wir können nicht herumlavieren, nicht wenn es um das Leben anständiger und ernsthafter Männer und Frauen geht. Es ist einfach eine Schande, Menschen weiterhin wegen eines unabänderlichen Aspekts ihrer Persönlichkeit zu verdammen, dem kein moralischer Makel anhaftet.

In der Tora lesen wir, dass Gott zu Abraham sagte: »Denn ich habe ihn [Abraham] auserwählt, dass er seinen Söhnen und seinem Haus nach ihm aufträgt, den Weg des Herrn einzuhalten und zu tun, was gut und recht ist« (2. Buch Moses 18,19). In der heutigen Welt, in dieser Sache, wissen wir, was diese Zeilen bedeuten!

Der Autor ist Rabbiner der Gemeinde »Temple Aliyah«, Needham/USA.

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