Wa’etchanan

Höre, Israel!

Das Schma-Gebet: »Höre Jisrael, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig.« Foto: Flash90

Wenige Minuten, bevor die Kinder in einem Kloster einschliefen, betrat ein seltsam aussehender Mann den großen Schlafsaal. Außergewöhnlich wirkte er in der düsteren Atmosphäre des Klosters. Die erstaunten Blicke der Kinder verfolgten die Bewegungen des Fremden, der auf einen Stuhl stieg. »Schma Jisrael Haschem Elohejnu Haschem echad«, durchschnitt seine Stimme die gespannte Stille im Saal, in sanftem Tonfall und in der Melodie, wie jüdische Eltern sie ihren Kindern vor dem Schlafengehen vorsingen.

Die Kinder richteten sich langsam auf. Ein Murmeln ging durch den Saal. Nicht alle Kinder kannten die Worte, doch rollten Tränen über manche Wange. Die Äbtissin verstand nicht, wieso manche Kinder aus ihren Betten sprangen, zu dem fremden Mann liefen und an seinem schwarzen Rock zerrten. »Papa! Mama!«, »Tate! Mame!«, weinten sie.

Klöster Es war in der Zeit kurz nach der Schoa. Rabbi Josef Shlomo Kahneman (1886–1969)› der Leiter der Ponevezh-Jeschiwa in Litauen, besuchte viele Klöster in Europa, um jüdische Kinder aufzuspüren, die während des Krieges dort versteckt worden waren. Seine Absicht war es, diese Kinder in die jüdische Gemeinschaft zurückzuholen.

Die Klosterleitungen waren von diesem Vorhaben nicht begeistert und suchten nach Gründen, die Kinder in der eigenen Obhut zu behalten. »Fünf Minuten«, hatte die Äbtissin zu Rabbi Kahneman gesagt. »Fünf Minuten haben Sie, um hier jüdische Kinder zu finden.«

Doch die fünf Minuten reichten: Obwohl einige Jahre vergangen waren, seit die Kinder ihre Elternhäuser hatten verlassen müssen, erkannten die meisten das »Schma Jisrael«, das sie jeden Abend mit ihren Eltern gemeinsam vor dem Schlafengehen gebetet hatten. Auch die Schrecken der Schoa vermochten die Worte dieses Gebets nicht zu löschen, die in ihr Gedächtnis eingebrannt waren.

VERANKERUNG Der Abschnitt Wa’et­cha­nan beginnt mit Mosches Rede, mit der er sich vor seinem Tod ausführlich an das Volk Israel wendet. Nachdem er den Israeliten die Zehn Gebote noch einmal eingeschärft hat, sagt er das Schma.

Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) meint: Dieses Gebet ist bis heute tief im jüdischen Unterbewussten verankert. Es ist wie ein im Herzen aufgerichteter Fahnenmast, der für die Überzeugung steht: Gott wird in Zukunft die Menschheit einen und versammeln. Das Schma ist der Rahmen, in dem sich das Leben eines Juden abspielt. Es wird bei seiner Geburt und bei seinem Tod gesprochen.

Egal, wo sich ein Jude auf dieser Erde befindet, er kennt den Segen des Schma und wird es seine Kinder lehren. Es soll in Fleisch und Blut übergehen und bedarf der täglichen Wiederholung. Es prägt die jüdische Bildung und Heiligung des Lebens für den Gott Israels. Selbst derjenige, der sein Judentum nicht praktiziert, bewahrt das Schma im Herzen. Und umgekehrt gilt: Dieses Bekenntnis zur Einheit und Einzigkeit des Ewigen bildet das pulsierende Herz des Judentums.

Schma Jisrael (Höre, Israel!) – welche tiefere Bedeutung hat dieses »Hören«? Rabbiner Hirsch erklärt: Das Hören schließt auch ein Sehen mit ein, wie es Mosche den Israeliten in Erinnerung ruft: »Du hast’s gesehen, auf dass du wissest, dass der Ewige allein Gott ist und keiner mehr« (5. Buch Mose 4,35).

SCHÖPFUNG In seinem Schöpfungshandeln hat sich der Ewige zwar sichtbar offenbart. Aus dem Vorhandensein der Schöpfung und dem Ablauf der Geschichte kommt der Mensch aber nicht zur Erkenntnis Gottes. Und deshalb heißt es auch nicht »Schau, Israel!«, sondern »Höre!«.

Der Verstand des Menschen braucht erst eine Anleitung, um Gott in dieser Welt zu erkennen. Und diese Anleitung beginnt damit, dass sich der Schöpfer den Erzvätern Israels offenbart. Später erleben die Kinder Israels, wie Gott mit ihnen Geschichte schreibt, sie aus der ägyptischen Knechtschaft befreit, durch die Wüste führt, und auf dem Berg Sinai hören sie Ihn sprechen.

Diese mit den Sinnen aufgenommene Gottesoffenbarung gibt das Volk konzentriert und auf den Punkt gebracht im »Schma Jisrael« von Generation zu Generation weiter. Damit sagen wir: Wenn der Ewige unsere Augen öffnet, damit wir Seine Taten in der Natur sehen, und Er unsere Ohren auftut, damit wir die Geschehnisse in der Geschichte verstehen, dann werden wir sehen, dass Kleines wie Großes Seine Werke sind, auf Seine Führung zurückgehen.

götzendienst Einige Hundert Jahre, bevor Mosche das Schma spricht, kommt es bereits beim Wiedersehen Jakows mit seinem Sohn Josef in Ägypten zur Sprache. In dieser Szene finden wir Erklärungen für das »echad« (einer, einzig), das jede Form von Götzendienst in Israels Gedanken und Taten verhindern will. Es heißt: »Und da Josef seinen Vater sah, fiel er ihm um den Hals und weinte lange an seinem Hals« (1. Buch Mose 43,29).

Es fällt auf, dass diese emotionale Rührung von Jakow nicht berichtet wird. Raschi (1040–1105) erklärt, dass der Vater in dem Moment, in dem er seinen 22 Jahre totgeglaubten Sohn wieder in die Arme schließen kann, das Schma gebetet habe.

Rabbiner Hirsch interpretiert Jakows Verhalten aus dessen Lebensgeschichte. Er bemerkt gegenüber dem Pharao: »Die Zeit der Jahre meines Weilens ist 130 Jahre; wenig und böse ist die Zeit meines Lebens und langt nicht an die Zeit meiner Väter in ihrem Weilen« (1. Buch Mose 47,9).

ERFAHRUNGEN Auf diese negative Lebensbilanz fällt jedoch für Jakow ein ganz anderes, neues Licht, als er erkennt, wie der Ewige die Wege Josefs geführt hat. Dieser einst verlorene Sohn steht nun als Vizekönig Ägyptens vor ihm. Jakow erkennt, dass alle schweren Erfahrungen, die er durchleiden musste, ihm von Gott geschickt wurden, um die ganze Familiengeschichte zu einem guten Ende zu führen. Es waren all die belastenden Jahre hindurch keine anderen Kräfte am Werk, als einzig und allein der Gott Awrahams, Jizchaks und Jakows. In der Umarmung Josefs bricht sich diese Gotteserkenntnis bei Jakow Bahn, und wir verstehen, warum der Vater in diesem Augenblick das Schma spricht.

Demgegenüber war der Sohn dem Vater schon voraus. Josef hatte bereits Zug um Zug das absichtsvolle Handeln Gottes in der glücklichen Führung seiner Karriere am ägyptischen Königshof erkannt. Deshalb spricht er das Schma nicht, als er seinen Vater wiedertrifft.

Die Botschaft von der Einheit Gottes möchte Jakow seinen Kindern weitergeben. Dazu versammelt er vor seinem Tod seine Kinder, und sie versprechen ihrem Vater: So wie in deinem Herzen, so gibt es auch in unserem Herzen nur den einen und einzigen Gott Awrahams, Jizchaks und Jakows (Talmud Pessachim 26).

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

inhalt
Der Wochenabschnitt beginnt mit der erneuten Bitte von Mosche, doch noch das Land betreten zu dürfen. Aber auch diesmal wird sie abgelehnt. Mosche ermahnt die Israeliten, die Tora zu beachten. Erneut warnt er vor Götzendienst und nennt die Gebote der Zufluchtsstädte. Ebenso wiederholt werden die Zehn Gebote. Dann folgt das Schma Jisrael, und dem Volk wird aufgetragen, aus Liebe zu Gott die Gebote einzuhalten und die Tora zu beachten. Den Abschluss bildet die Aufforderung, die Kanaaniter und ihre Götzen aus dem Land zu vertreiben.
5. Buch Mose 3,23 – 7,11

Nahost

»Öl ins Feuer des anwachsenden Antisemitismus«

Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt wirft der evangelischen Kirche moralisches Versagen vor und kritisiert eine Erklärung des Weltkirchenrats, in der Israel »dämonisiert« werde

 05.07.2025

Chukat

Ein Tier, das Reinheit schafft

Wir können die Mizwa der Roten Kuh nicht verstehen – aber ihre Bedeutung erahnen

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  04.07.2025

Talmudisches

Die weibliche Idee hinter König David

Was Kabbalisten über Eschet Chajil, die tüchtige Frau, lehren

von Vyacheslav Dobrovych  04.07.2025

Jerusalem

Das falsche Grab

Das Buch der Könige gibt Auskunft darüber, wo David wirklich begraben wurde

von Rabbiner Igor Mendel Itkin  03.07.2025

Interview

»Inhalte statt Konflikte produzieren«

Rabbinerin Elisa Klapheck will in ihrer zweiten Amtszeit als Vorsitzende der Allgemeinen Rabbinerkonferenz zusammenführen

von Mascha Malburg  03.07.2025

Kirchen

Theologe Staffa kritisiert Apartheidsbeschluss des Weltkirchenrates

Der Apartheidsvorwurf sei einfach falsch, sagte der christliche Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Christen und Juden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag

von Stephan Cezanne  01.07.2025

Essay

Der Weltkirchenrat auf Abwegen

Die Organisation mit mehr als 350 meist protestantischen Kirchen stimmt in den Chor all derer ein, die ein antiisraelisches Lied nach dem anderen singen. Immer lauter. Immer wütender. Immer obsessiver

von Daniel Neumann  29.06.2025

Talmudisches

Beten gegen das Böse

Was unsere Weisen über den freien Willen und moralische Entscheidungen lehrten

von Vyacheslav Dobrovych  27.06.2025

Vertrauen

»Ich werde da sein«

Wo nur ist Gott auf dieser Welt? Er hat es Mosche gesagt

von Rabbiner David Kraus  27.06.2025