Ziemlich genau zwei Jahre nach den schrecklichen Ereignissen des 7. Oktober feierten wir dieses Jahr Sukkot und Simchat Tora mit einem besonderen Gefühl. Nach 738 langen Tagen der Gefangenschaft, kehrten die 20 noch lebenden israelischen Geiseln endlich zurück. Es war ein Moment großer Erleichterung und Dankbarkeit für all die Familien und Freunde der Geiseln und die gesamte jüdische Gemeinschaft.
Zugleich sind unsere Gedanken aber auch stets bei jenen, deren Liebsten die letzten zwei Jahre Krieg nicht überlebt haben. Wir beten weiter für Frieden im Nahen Osten und für die Sicherheit all jener, die Tag für Tag zwischen Angst und Hoffnung leben.
Denn wir wissen, wie zerbrechlich Freude sein kann – gerade auch, wenn wir an Simchat Tora vor zwei Jahren zurückdenken. Vielleicht ist genau das der Grund, weshalb wir zu Sukkot das Buch Kohelet (Prediger) lesen – ein Text, der uns mitten im Fest der Freude an die Vergänglichkeit erinnert. Nach den Tagen des Lichts, nach Rosch Haschana und Jom Kippur, nach Momenten der Erneuerung und Nähe zu G‹tt, lesen wir ein Buch, das von Unsicherheit und Vergänglichkeit spricht.
»Nichtigkeit der Nichtigkeiten, spricht Kohelet, Nichtigkeit der Nichtigkeiten, alles ist Nichtigkeit.« (Kohelet 1,2) Das hebräische Wort »hevel« lässt sich auf verschiedene Weisen übersetzen: als »Nichtigkeit«, »Dunst«, »Hauch«, oder eben auch als »Vergänglichkeit«. »Hevel« ist nicht das Nichts. Es ist das Bewusstsein, dass alles, was wir haben, nur geliehen ist; dass uns alles, was wir haben, wieder weggenommen werden kann.
Ohren sind die Griffe zum Halten
Der Name Kohelet selbst ist ungewöhnlich. Es ist der hebräische Name der Megilla, aber auch des Verfassers selbst, wie wir im ersten Vers des Buches erfahren. Er leitet sich vom Wort »kahal« (»Versammlung«) ab. Kohelet ist also nicht nur ein Weiser oder Philosoph, sondern jemand, der versammelt, der verbindet – jemand, der Worte so spricht, dass sie in der Gemeinschaft Bedeutung gewinnen. Darum heißt es am Ende des Buches: »Und mehr noch, dass Kohelet ein Weiser war: Kohelet lehrte das Volk Erkenntnis, er erwog und forschte, und er verfasste viele Gleichnisse.« (Kohelet 12,9) Hier drin steckt bereits eine ganze Pädagogik: Der Kohelet lehrte das Volk Erkenntnis. Er war nicht der Lehrer einer Elite, sondern jemand, der die Tora dem Volk zugänglich machte – mittels Gleichnissen.
Weisheit ist nicht nur Erkenntnis, sondern auch Vermittlung.
Der Midrasch »Schir HaSchirim Rabba« entfaltet diesen Vers auf wunderbare Weise. Zuerst erklärt er, warum gerade Schlomo Hamelech, der König Salomo – laut unserer Überlieferung der Autor von Kohelet, Mischlei und Schir Haschirim – als der Inbegriff des Weisen gilt: »Er erwog die Worte der Tora, erforschte sie und machte der Tora ‹Ohren’.« (Schir HaSchirim Rabba 1:1:8) Das Wort «we’izen« steht in Verbindung zu »oznajim« (»Ohren«). Der Midrasch bemerkt: Schlomo schuf »Ohren« oder eben »Griffe« für die Tora.
So entsteht die schöne Wortverbindung: Kohelet – der Versammler – schuf »oznajim« – Griffe, über die Menschen die Tora »tragen« können. Vor ihm war die Tora wie ein großer, schwerer Krug ohne Henkel. Dann kam er und befestigte Griffe, damit sie für die Menschen fassbar wurde.
Gleichnisse zum Erklären der Weisheit
Der Midrasch erklärt, dass Schlomo der Erste war, der durch Gleichnisse – »Meschalim« – die Tora so zugänglich machte, so dass das Volk sie verstehen konnte. Doch wir müssen uns bewusst sein: Ein Midrasch ist keine trockene Erklärung, sondern eine Brücke zwischen der Welt des Textes und der Welt des Lebens. Er zeigt, wie Worte der Tora in den Herzschlag der Generationen übersetzt werden.
Um diesen Gedanken weiter zu veranschaulichen, bringt der Midrasch »Schir Haschirim Rabba« eine Reihe von Gleichnissen – vier kleine Analogien, die illustrieren, was es bedeutet, dass Schlomo die Tora für das Volk anhand von Meschalim zugänglich machte.
Ein Gleichnis handelt von einem Schloss mit vielen Türen und jeder, der hineinging, verirrte sich: Ein Weiser nimmt ein Knäuel Faden und spannt es entlang des richtigen Weges, damit die Menschen hinein- und hinausfinden. So schuf Schlomo Orientierung – er spannte den roten Faden.
Wenn wir die Tora teilen, dann wird aus einem einfachen Hauch göttliche Inspiration.
Ein anderes Gleichnis erzählt von einer dichten Schilfhecke, durch die ein Weiser mit einer Sichel einen Pfad schneidet. Hier zeigt sich: Weisheit ist nicht Besitz, sondern Wegbereitung. Schlomo bahnte Wege – er schuf Zugänge, nicht Mauern.
Ein drittes Gleichnis beschreibt einen Korb voller Früchte ohne Griffe. Erst als ein Weiser Henkel daran befestigt, wird der Korb tragbar. So veranschaulichte Kohelet die Fülle der Tora und dass sie nur mit gewissen »Tools« erfassbar ist.
Und schließlich das Gleichnis vom tiefen Brunnen: Ein Mann bindet Seil an Seil, zieht Wasser herauf, und alle können trinken. So machte er die Tiefe der Tora zugänglich.
Der Midrasch schließt mit den mahnenden Worten: »Halte das Gleichnis nicht für etwas Geringes, denn durch das Gleichnis kann der Mensch die Worte der Tora verstehen.« (ebd.) Das Gleichnis ist kein Schmuck, sondern ein Werkzeug. Es erlaubt uns, das Unsichtbare zu sehen, das Unfassbare zu fassen.
Schlomo war also nicht nur weise, weil er verstand – sondern weil er verstanden wurde. Hier liegt der Kern der Lehre: Weisheit ist nicht nur Erkenntnis, sondern auch Vermittlung. Wahre Weisheit besteht nicht darin, mehr zu wissen, sondern Worte so zu wählen, dass sie Menschen bewegen und verbinden. Weisheit ist das Licht, das wir teilen, wenn die Welt dunkel ist. Das ist das Vermächtnis von Kohelet: Er zeigt uns, dass Weisheit bedeutet, Licht zu teilen, nicht zu besitzen.
Weisheit in der Zerbrechlichkeit
Zwei Jahre nach jenem dunklen Tag im Oktober 2023, als uns das Gefühl der Sicherheit so brutal entzogen wurde, klingen die Worte Kohelets auf neue Weise: »Und mehr noch, dass Kohelet ein Weiser war.« Weisheit bedeutet nicht, alles zu verstehen. Weisheit bedeutet, trotz allem weiterzusuchen, zu forschen, zu fragen, zu lernen.
In einer Zeit, in der Antisemitismus auch in Europa wieder zunimmt – selbst hier, wo wir dachten, die Lektionen der Geschichte seien gelernt –, ruft uns Kohelet zu: »Bleibt Suchende, bleibt Lehrende, bleibt ein Kahal – eine Gemeinschaft, die die Tora trägt. Macht Griffe an die Tora. Findet Worte, Gesten und Handlungen, die Glaube tragbar machen – für euch, für eure Kinder, für die Welt.«
Unsere Antwort auf die Dunkelheit darf nicht nur Trauer sein, sondern »Chochma«, also Weisheit, die verbindet. Wenn wir lernen, feiern, diskutieren, wenn wir eine Sukka bauen oder gemeinsam Kiddusch sprechen, dann sind wir Kohelet: Wir sammeln, lehren, tragen.
Stimme der Gemeinschaft
Am Ende desselben Midrasch heißt es: »Rabbi Judan sagte: Jeder, der Worte der Tora in der Öffentlichkeit spricht, wird gewürdigt, dass der göttliche Geist auf ihm ruht.« (ebd.) Hier schließt sich der Kreis: Kohelet – der, der den Kahal, die Versammlung, anspricht – zeigt, dass wahre Weisheit nicht im Rückzug liegt, sondern im Teilen. Das Wort »barabbim«, »in der Öffentlichkeit«, steht in direkter Verbindung zu »kahal«. Weisheit ist nichts Privates. Sie lebt nur, wenn sie geteilt wird, wenn sie gehört wird – wenn sie »Ohren« findet.
Rabbiner Joseph B. Soloveitchik schrieb: »Glaube ist kein Rückzug aus der Welt, sondern ein Bund mitten in ihr.« Kohelet lehrt uns, diesen Bund immer wieder neu zu schließen – mit Worten, die tragen, mit Gleichnissen, die verbinden, mit Gemeinschaft, die hält. Wenn wir die Tora teilen – sei es in Worten oder Taten –, dann wird aus einem einfachen Hauch ein Ruach HaKodesch, göttliche Inspiration.
Baum des Lesens
Kohelet endet mit den Worten: »Das Ende der Sache – alles ist gehört: Fürchte G’tt und halte seine Gebote, denn das ist der ganze Mensch.« (Kohelet 12,13) Am Ende zählt nicht, was wir besitzen, sondern was wir gehalten, verstanden und gelehrt haben. Unsere Aufgabe ist es, »oznajim« zu schaffen – Griffe für die Tora, Griffe für das Leben.
Gerade nach den schweren Zeiten der letzten zwei Jahre, nach Schmerz, Verlust und der bleibenden Ungewissheit, wird uns bewusst, wie wichtig diese Griffe sind. Wenn die Welt wankt, wenn alte Sicherheiten zerbrechen, dann sind es die »oznajim«, die Griffe – unsere Geschichte, unsere Gebete, unsere Gemeinschaft –, die uns Halt geben.
Vielleicht ist das auch die tiefere Bedeutung der Sukka: Sie ist wie ein Baum des Lebens, der sich im Wind bewegt. Nichts an ihr ist stabil oder dauerhaft – und doch hält sie uns. Wir greifen an die Holzlatten, wir schauen durch das »s’chach« (Dach der Sukka) in den Himmel, und wir wissen: Der Halt, den wir finden, ist nicht in Stein gemeißelt, sondern im Vertrauen verwurzelt.
Rabbi Jonathan Sacks sel. A. schrieb: »Glaube ist nicht Gewissheit; Glaube ist der Mut, mit Ungewissheit zu leben.« Die Tora gibt uns nicht immer Antworten – sie gibt uns etwas, woran wir uns halten können, während wir selbst nach Antworten suchen.
Tora als Wegweiser
Wenn wir heute –zwei Jahre nach dem 7. Oktober 2023 – die Worte Kohelets lesen und erneut sagen, so tun wir dies nicht aus Resignation, sondern in Demut und Dankbarkeit. Zum ersten Mal seit dem Jahr 2014 befinden sich keine Geiseln mehr in den Händen der Hamas.
Wir erkennen die Vergänglichkeit des Lebens – und zugleich auch seine tiefe Bedeutung. Wir wissen einerseits, dass das Leben vergänglich ist. Aber wir wissen auch: Wir haben Halt. Wir haben Gemeinschaft. Und wir haben die Tora als Quelle von Orientierung und Hoffnung.
Der Frieden, für den wir beten, solle greifbar werden – für die ehemaligen Geiseln und ihre Angehörigen, für das jüdische Volk und für unsere ganze Welt. Damit der diesjährige Feiertag nicht nur ein Ende markiert, sondern auch einen Anfang: für Heilung und für den gemeinsamen Weg in eine friedlichere Zukunft.
Der Autor ist Geschäftsführer der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich.