10. Tewet

Gute Gründe zu fasten

In den nördlichen Teilen der Welt ist der 10. Tewet der kürzeste jüdische Fastentag. Foto: Thinkstock

Um zu feiern, reicht ein guter Grund – um zu fasten, braucht man mehrere Gründe. Denn das Fasten fällt uns schwer, es ist nicht natürlich für den Menschen. Essen und Trinken sind Bestandteile unseres gesunden Lebens. Wenn man sich dagegen entscheidet, braucht man einen überzeugenden Grund – oder sogar mehrere.

Einer der Fastentage im Judentum findet eine Woche nach Chanukka statt – und nicht etwa deshalb, weil wir während der Feiertage so viele Sufganiot gegessen haben. Es gibt eine Reihe von Fastentagen im jüdischen Jahr, die ähnliche, aber doch unterschiedliche Hintergründe haben: Es handelt sich um eine Kette von Ereignissen, die zur Zerstörung des Tempels führten. In dieser Reihe ist der 10. Tewet der erste Feiertag.

Zaun
Etwa anderthalb Jahre vor der Zerstörung des ersten jüdischen Tempels durch die Babylonier wurde die Stadt Jeruschalajim umzäunt. Das war ein klares Zeichen für die Zukunft dieser Stadt. Denn das Ziel war eindeutig: Niemand durfte in die Stadt gelangen, und niemand durfte sie verlassen. Man brachte kein Essen in die Stadt, und selbst kranke Menschen verließen Jerusalem nicht. Somit wurde großer Druck auf die Bewohner der Stadt ausgeübt.

Im Tanach wird im Zweiten Buch der Könige geschildert, wie es weiterging: »Aber dann geschah es, im neunten Jahr seiner Königschaft, am zehnten Tag des zehnten Monats: Nebukadnezar, König von Babel, kam über Jerusalem, er und all sein Heer, er belagerte es, sie bauten Bollwerke rings um sie her. So wurde die Stadt belagert bis ins elfte Jahr des Königs Zidkijahu. Aber am neunten Tag des vierten Monats wurde der Hunger in der Stadt immer stärker, sodass das Volk des Landes kein Brot mehr hatte« (2. Buch Könige 25, 1–3).

Esra Esra ha-Sofer, ein großer Anführer des jüdischen Volkes, überzeugte die Menschen, mit ihm nach Israel zu gehen. So kam Esra mit weiteren 1800 Menschen nach Israel und sorgte für die Stärkung des religiösen jüdischen Lebens unter den Olim, den Neuzuwanderern in Israel. Esra hat vieles erreicht. Eines seiner wichtigsten Anliegen war die Bekämpfung der interkulturellen Ehe unter der Bevölkerung. Ein Jahr nach der Vollendung des Baus des Zweiten Tempels in Jerusalem kam Esra nach Israel – er starb am 10. Tewet.

Einhundert Jahre nach der Rückkehr nach Israel, dem Wiederaufbau des Tempels und dem Tod Esras forderte der ägyptische König Talmai der Zweite (Ptolemaios II.) die jüdischen Weisen auf, die Tora ins Griechische zu übersetzen. Er ließ 72 jüdische Gelehrte auf eine Insel bringen und jeden einzelnen in eine Kammer führen.

Sein Wille, unsere Heiligen Schriften kennenzulernen, war sehr stark, hätte aber die Existenz des jüdischen Volkes gefährden können, falls die Texte der Tora missverstanden oder unterschiedlich interpretiert würden. Doch mit G’ttes Hilfe lieferten alle 72 Gelehrten die gleiche Übersetzung der Tora.

Auch das Ergebnis der Weisen bei Änderungen und Auslegungen von problematischen Stellen war einheitlich (Megila 9ab). Die Übersetzung wurde am 8. Tewet beendet. Danach kam eine dreitägige Finsternis über die Welt – drei dunkle Tage für das Judentum, bis zum 10. Tewet.

Kaddisch
Nach der Schoa in Europa wussten viele Menschen, deren Verwandte umgekommen waren, nicht, an welchem Tag sie ermordet wurden und wann ihre Jahrzeit zu feiern sei. Das Oberrabbinat in Israel erklärte daher den 10. Tewet zum Tag des allgemeinen Kaddisch für Menschen, deren Todesdatum nicht bekannt ist. Somit gibt es an diesem Tag einen weiteren Grund zum Fasten: das Fasten zum Gedenken an die Opfer der Schoa.

Solange es, G’tt sei Dank, unter uns noch Überlebende der Schoa gibt, bleibt der 10. Tewet nach wie vor der Tag des Kaddisch für viele Juden. Man liest Gedenkgebete, gibt Zedaka und lernt Mischna zur Erhebung der sechs Millionen Seelen jener Menschen – der Männer, Frauen und Kinder, der Alten und der Jungen –, die durch deutsche Täter im Dienst des mörderischen NS-Systems und ihre Helfer unter den Völkern ermordet wurden.

Jeruschalajim Der 10. Tewet ist heute einer von sechs Fasttagen in unserem jüdischen Kalender. In den nördlichen Teilen der Welt ist er der kürzeste Fastentag unter allen. Von all den erwähnten Gründen für das Fasten am 10. Tewet konzentrieren wir uns mit unserer Trauer auf die immer noch nicht vollkommen wiedererbaute Stadt Jeruschalajim.

Der Konflikt um Jerusalem macht es uns allen noch deutlicher, dass wir zwar in einer wesentlich besseren Situation sind als vor 50 Jahren, als Jerusalem noch nicht von Israel regiert wurde und es für Juden zwischen 1948 und 1967 keine Möglichkeit gab, an der Kotel zu beten. Doch heute wünschen wir uns, dass diese Stadt wieder weltweit mit ihrer Bedeutung als G’ttes Stadt glänzen möge.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main und Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz.

Wajera

Awrahams Vermächtnis

Was wir vom biblischen Patriarchen über die Heiligkeit des Lebens lernen können

von Rabbiner Avraham Radbil  07.11.2025

Talmudisches

Rabbi Meirs Befürchtung

Über die falsche Annahme, die Brachot, die vor und nach der Lesung gesprochen werden, stünden im Text der Tora

von Yizhak Ahren  07.11.2025

Festakt

Ministerin Prien: Frauen in religiösen Ämtern sind wichtiges Vorbild

In Berlin sind zwei neue Rabbinerinnen ordiniert worden

 06.11.2025

Chassidismus

Im Sturm der Datenflut

Was schon Rabbi Nachman über Künstliche Intelligenz wusste

von Rabbiner David Kraus  06.11.2025

Rezension

Orthodoxer Rebell

Sein Denken war so radikal, dass seine Werke nur zensiert erschienen: Ein neues Buch widmet sich den Thesen von Rabbiner Kook

von Rabbiner Igor Mendel  06.11.2025

Potsdam

Abraham-Geiger-Kolleg ordiniert zwei Rabbinerinnen

In Deutschlands größter Synagoge Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg werden an diesem Donnerstag zwei Rabbinerinnen ordiniert. Zu der Feier wird auch Polit-Prominenz erwartet

 05.11.2025

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Lech Lecha

Im Sinne der Gerechtigkeit

Awraham war der Erste in der Menschheitsgeschichte, der gegen das Böse aufstand

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  31.10.2025