Schabbat

G’ttliches Eingreifen

Anders als erwartet: In jedem Moment kann das Leben in eine andere Richtung gehen. Foto: Thinkstock

Oft liegen die Extreme näher beieinander, als man vermuten würde: Liebe und Hass, Freude und Trauer, Schmerz und Genuss – in vielen Lebenssituationen stehen Gegensätze in einer erschreckend engen Beziehung zueinander.

Der Wochenabschnitt Schemini berichtet von dem ereignisreichen Tag, als der Mischkan, das Stiftszelt, errichtet wurde. Am selben Tag sterben auch Aharons Söhne Nadav und Avihu. Für Aharon, den Hohepriester des Stiftszeltes, wird der Tag der ultimativen Errungenschaft auch zu einem Tag großen persönlichen Verlustes.

Tora und Talmud geben als Gründe für den frühen Tod der beiden Söhne Aharons einige Verschuldungen an. Die Weisen lehren allerdings auch, dass es das außerordentlich hohe spirituelle Niveau von Nadav und Avihu war, das ihren Tod hervorrief.

überraschung Wir wollen uns hier jedoch nicht mit der Frage von Schuld und Strafe beschäftigen, sondern unseren Blick vielmehr auf das Phänomen des sogenannten Plot Twist, der überraschenden Wendung, richten.

Wir stoßen nicht nur hier, sondern auch an vielen anderen Stellen der Tora auf überraschende Wendungen. So wurde zum Beispiel Jizchak seinen Eltern Awraham und Sara in einem derart hohen Alter geboren, dass es überhaupt nicht danach aussah, als wäre noch ein Kind zu erwarten. Die jüdische Geschichte schien keine Kontinuität zu haben – und dies, noch bevor sie überhaupt begonnen hatte. Doch das g’ttliche Eingreifen bewirkte eine drastische Veränderung der Handlung.

Später fordert G’tt Awraham auf, seinen geliebten Sohn Jizchak zu opfern. Mit jedem Schritt, den Vater und Sohn in Richtung des Berges Moria gehen, nähert sich das tragische Ende von Jizchaks Leben und damit auch das der jüdischen Geschichte. Aber auch diesmal wird Awraham im letzten Moment aufgehalten. Auf dem Rückweg informiert ihn G’tt, dass soeben Jizchaks künftige Frau Riwka geboren wurde. Der Tag, der das Ende der jüdischen Geschichte besiegeln sollte, wird so zum Tag, an dem die Kontinuität dieser Geschichte eine neue Dynamik erhält.

Lachen Interessanterweise bedeutet der hebräische Name »Jizchak« ins Deutsche übersetzt wörtlich »er soll lachen«. Bei genauerer Betrachtung wird ersichtlich, dass die Pointen, über die wir lachen, eigentlich Umschwünge einer Erzählung sind, die das zuvor Gesagte in neuem Licht erscheinen lassen.

Folgender Witz verdeutlicht dies. Das Mädchen Johanna sagt zu ihrem Vater: »Ich wünsche mir zum Geburtstag ein Pony.« Der Vater: »Geht in Ordnung.« Johanna: »Wirklich? Oh Papa, ich liebe dich über alles!« Der Vater am Geburtstag: »So, Johanna, dein Friseurtermin steht.«

Die Situation wird als witzig empfunden, weil sie eine unerwartete Wendung erfährt. Genauso erlebt auch Jizchak, die Keimzelle des künftigen jüdischen Volkes, eine unerwartete Wendung nach der anderen.

Einige Kommentare deuten darauf hin, dass die Buchstaben des Wortes Jizchak auch die Wörter »Ketz« (das Ende) und »Chai« (Leben) ergeben – Hinweis auf ein Leben, das sich aus scheinbaren Sackgassen neu erhebt und jedes Mal eine neue Dynamik erlebt.

Tod Der frühere britische Oberrabbiner Jonathan Sacks nannte die jüdische Nation einmal »die Stimme der Hoffnung in der Konversation der Völker«. Wir leben in einer Welt, in der alle durch Höhen und Tiefen gehen, und am Ende warten auf uns das Altern und der Tod. Doch das Judentum lehrt, dass der Tod nur eine Transformation von einem Zustand des irdischen in einen höheren Zustand des geistigen Lebens ist.

Das Ende der Welt, wie wir sie kennen, stellt einen Übergang in eine neue Welt dar, eine Welt, in der Frieden herrscht. Der Prophet Micha beschreibt diese Zeit mit folgenden Worten: »Sie schmieden dann ihre Schwerter zu Pflügen um und ihre Lanzen zu Sicheln. Kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden fortan nicht mehr lernen, Krieg zu führen« (4,3). Das ist der ultimative »Plot Twist« der menschlichen Geschichte.

König David beschreibt den Tag, an dem die Erlösung anbricht, mit folgenden Worten: »Als Zion wieder baut’ der Ewige, da waren wir wie träumend. Da füllte sich mit Lachen unser Mund und unsere Zunge sich mit Jubel« (Tehillim 126, 1–2). Nicht zufällig ist es das Lachen, das zuletzt den Mund erfüllt – die natürliche Reaktion auf G’ttes letzte Pointe in der Geschichte der Menschheit.

Umbruch Aharons Reaktion auf den Tod seiner Söhne war Schweigen. Nicht immer sieht es aus, als würde ein Umbruch eine neue, bessere Dynamik bringen. Doch Aharon wusste, dass jeder Umbruch im Puzzle der Geschichte ein verborgener Schritt in Richtung Ende ist.

Aharons Schweigen ist die Manifestation einer tief verankerten inneren Sicherheit, die sich aus dem Verständnis ergibt, dass im Laufe der jüdischen Geschichte auch diese Leiden eine Wendung erleben, ja, ein Ende haben werden.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

Paraschat Schemini
Der Wochenabschnitt schildert zunächst die Amtseinführung Aharons und seiner Söhne als Priester sowie ihr erstes Opfer. Dann folgt die Vorschrift, dass die Priester, die den Dienst verrichten, weder Wein noch andere berauschende Getränke trinken dürfen. Der Abschnitt listet auf, welche Tiere koscher sind und welche nicht, und er erklärt, wie mit der Verunreinigung durch tote Tiere umzugehen ist.
3. Buch Mose 9,1 – 11,47

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