Talmudisches

Gericht und Reue

»Als Kind betete ich für ein Fahrrad, aber dann verstand ich, dass G’tt nicht so funktioniert. Also klaute ich ein Fahrrad und bat G’tt um Vergebung.« Foto: Getty Images/iStockphoto

In einem Witz heißt es: »Als Kind betete ich für ein Fahrrad, aber dann verstand ich, dass G’tt nicht so funktioniert. Also klaute ich ein Fahrrad und bat G’tt um Vergebung.«

Dieser Witz könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein! Der Talmud lehrt im Traktat Joma (85b), dass das Fasten an Jom Kippur dabei hilft, die Sünden zwischen dem Menschen und G’tt zu beseitigen, aber nicht die zwischen den Menschen untereinander.

Maimonides, der Rambam (1138−1204), differenziert und erklärt die talmudischen Quellen weiter. Teschuwa, Rückkehr zu G’tt, besteht aus drei Teilen: dem Eingestehen der Sünde (im persönlichen Gebet zu G’tt), der Bitte um Vergebung und der ernsthaften Absicht, die Sünde nie wieder zu begehen.

Falls eine Person ein Gebot nicht erfüllt, zum Beispiel nicht Tefillin anlegt, und für dieses Vergehen Teschuwa macht (in den drei beschriebenen Schritten), so wird der Person sofort vergeben, auch ohne Jom Kippur. Falls eine Person gegen eines der einfachen Verbote der Tora verstößt (wie zum Beispiel das Essen von Schweinefleisch), so ist Teschuwa nötig, um Vergebung zu erbitten. Aber erst das Fasten an Jom Kippur löscht die Strafe aus, welche der Betreffende erwarten müsste. Falls jemand eine der schwereren Sünden begangen oder den Namen G’ttes entweiht hat (sich also auf eine Art und Weise benommen hat, die den Namen G’ttes öffentlich entehrt), so sind Teschuwa und das Fasten an Jom Kippur nötig, um Vergebung zu erbitten. Doch erst der Schmerz im Moment des Todes kann die Sünde vollkommen reinigen. Die Kabbalisten präsentieren verschiedene Tikkunim (Nachbesserungen), mit denen auch dieser Strafe aus dem Weg gegangen werden kann.

Eine zwischenmenschliche Sünde kann nur dann beseitigt werden, wenn man sich aufrichtig entschuldigt

Eine zwischenmenschliche Sünde jedoch kann nur dann beseitigt werden, wenn man sich bei der Person, der man Unrecht getan hat, aufrichtig entschuldigt und versucht, den angerichteten Schaden zu beheben. Keine auch noch so große Zahl von Gebeten kann einen Diebstahl, eine Verletzung oder die Entehrung eines Mitmenschen rein­waschen, solange wir die Person nicht um Vergebung bitten.

Dieses Wissen gibt uns einen tiefen Einblick in die jüdische Philosophie: Wir sind hier, um miteinander als Gemeinschaft von Kindern G’ttes zu leben. Wir sind hier, um einander zu ehren und zu lieben. Und die g’ttlichen Gebote sind Mittel, um uns zu heiligen und die Energie der Heiligkeit zu nutzen, um andere zu lieben.

Der Baal Schem Tow, der Begründer des Chassidismus, gibt eine spannende Perspektive auf das g’ttliche Gericht: Er sagt, dass man nach dem Tod sein eigenes Leben gezeigt bekommt, aber in dem Moment vergisst, dass die Person, die man sieht, man selbst ist. Danach wird man gebeten, über diese Person ein Urteil zu fällen. Erst danach versteht man, dass der Mensch, der einem gezeigt wurde, man selbst ist, und muss mit dem Urteil leben. Wenn man sich angewöhnt hat, Menschen positiv und vergebend zu beurteilen, so bereitet man sich selbst ein gutes Urteil. Hat man sich aber angewöhnt, mit Menschen hart ins Gericht zu gehen, so erhält man selbst ein hartes Urteil.

Diese Lehre greift auch Rabbi Nachman auf. Er erklärt den Vers »Noch ein bisschen, und der Bösewicht ist nicht mehr da« (Psalm 37,10) auf originelle Art. Rabbi Nachman lehrt, dass man in jedem Menschen, selbst dem bösesten, nach dem Guten suchen soll. Wenn man sich denkt, dass die Person trotz allem eine gute Tat vollbracht hat, so nimmt dieser Gedanke Einfluss auf die Person und bewirkt, dass sie sich zum Guten hingezogen fühlt und Teschuwa macht. Denn »ein bisschen« des guten Gerichts, das man in seinen Gedanken über den anderen abhält, führt dazu, dass »der Bösewicht nicht mehr da ist«, weil er sich durch die Teschuwa in einen Gerechten verwandeln wird.

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  16.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025