Talmudisches

Gemillut Chassadim

Die Mischna lehrt: Der Erfahrene soll nach seinen Möglichkeiten als Berater wirken. Foto: Getty Images/iStockphoto

Talmudisches

Gemillut Chassadim

Was unsere Weisen über gute Ratgeber lehren

von Yizhak Ahren  04.08.2023 10:16 Uhr

In der Mischna, die 14 Phasen im Leben eines Juden auflistet, heißt es: »Mit 50 Jahren soll man Ratgeber sein« (Sprüche der Väter 5,24). Warum gerade ab 50? Weil man dann in der Regel schon jene Lebenserfahrung gesammelt hat, die erforderlich ist, um gute Ratschläge geben zu können.

Einen Hinweis auf die zitierte Festlegung der Mischna fand Raschi in einer Anweisung der Tora über den levitischen Dienst: »Nach dem 50. Jahr trete er zurück von öffentlicher Leistung des Dienstes und hat nicht mehr Dienst zu leisten. Wohl aber soll er aufwarten seinen Brüdern beim Stiftszelt« (4. Buch Mose 8, 25–26). Das heißt, er berät und belehrt die jungen Leviten.

LOHN Der Erfahrene soll also nach seinen Möglichkeiten als Berater wirken. Ein Ratgeber erfüllt das Tora-Gebot der werktätigen Liebe (Gemillut Chassadim), die laut Rabbiner Samson Raphael Hirsch sogar höher als die Wohltätigkeit mit Vermögen gewertet wird. Von einer guten Beratung profitieren beide Seiten. Derjenige, der den Rat sucht, versteht die Sache, um die es geht, nach dem Gespräch mit einem Experten besser, und auch für den Ratgeber lohnt sich die Arbeit.

Dabei ist nicht nur an das manchmal üppige Honorar zu denken, sondern auch an den himmlischen Lohn für die Ausübung von Gemillut Chassadim. Im Talmud (Schabbat 127a) wird über einige Mizwot (darunter auch Gemillut Chassadim) gesagt, dass man die Früchte der Erfüllung dieser Gebote bereits auf dieser Welt genießt, während das Kapital für die zukünftige Welt erhalten bleibt. Dieser Lehrsatz wird übrigens täglich im Morgengebet nach den Segenssprüchen über die Tora rezitiert.

Es versteht sich von selbst, dass ein Berater stets die Interessen des Ratsuchenden im Blick haben sollte. Ein Ratgeber, der seine eigenen Interessen verfolgt, übertritt das folgende Verbot der Tora: »Vor einem Blinden lege kein Strauchelwerk« (3. Buch Mose 19,14). Unsere Weisen haben das Bild vom Blinden, dem kein Hindernis in den Weg gelegt werden darf, auf einen Ratsuchenden bezogen: Es ist streng verboten, einen unangemessenen Ratschlag zu geben! Den Vers »Verflucht sei, der irreführt einen Blinden auf dem Wege« (5. Buch Mose 27,18) interpretiert Raschi: Verflucht wird, wer einem Menschen, der in einer bestimmten Sache blind ist, einen schlechten Rat gibt.

MORAL Dass Ratgeber für unmoralische Handlungen, die sie vorgeschlagen haben, mitverantwortlich sind, verdeutlicht eine kleine Geschichte, die man an zwei Stellen im Talmud (Sota 11a und Sanhedrin 106a) lesen kann: »Rabbi Chija Bar Abba sagte im Namen Rabbi Simajs: Drei waren damals beim Brainstorming dabei, und zwar Bileam, Hiob und Jitro.«

Wer wurde beraten? Welche Entscheidung wurde seinerzeit gefällt? Raschi erklärt, dass der Pharao eine Lösung für das »Israelitenproblem« in Ägypten suchte; er ließ sich beraten von drei bekannten Männern, Bileam, Hiob und Jitro. Am Ende gab der ägyptische Herrscher den Befehl: »Jeden geborenen Sohn werft in den Fluss« (2. Buch Mose 1,22).

Die Gemara berichtet: »Bileam, der den Rat gab, wurde erschlagen; Hiob, der schwieg, wurde durch Züchtigungen bestraft; und dem Jitro, der floh, war es beschieden, dass Enkelkinder von ihm in der Quaderhalle saßen.«

kindermord Wir verstehen, dass Bileam für seinen Vorschlag des Kindermords getötet wurde (4. Buch Mose 31,8). Aber warum wurde Hiob hart bestraft? Weil er nicht hätte schweigen dürfen; er hätte Pharao raten sollen, die Israeliten wegziehen zu lassen. Warum floh der Ratgeber Jitro? Er war gegen die geplante Mordaktion und befürchtete, der Pharao werde ihn deshalb umbringen.

Der talmudische Bericht über den Beraterstab des Pharaos enthält zeitlose Lehren für den Umgang mit einem gewalttätigen Herrscher. Ratgeber können sich nicht herausreden, sie hätten nur Vorschläge entwickelt. Befürworten sie Unrechtsmaßnahmen, so sind sie wie Bileam für dann begangene Untaten mitverantwortlich. Wer schweigt, kann wie Hiob mitschuldig werden. Ein treuer Ratgeber sollte unter gegebenen Umständen wie Jitro bereit sein, auf seinen lukrativen Posten zu verzichten.

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Wajigasch

Mut und Hoffnung

Jakow gab seinen Nachkommen die Kraft, mit den Herausforderungen des Exils umzugehen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  19.12.2025

Mikez

Füreinander einstehen

Zwietracht bringt nichts Gutes. Doch vereint ist Israel unbesiegbar

von David Gavriel Ilishaev  19.12.2025

Meinung

Heute Juden, morgen Christen

Judenhass führt konsequent zum Mord. Dafür darf es kein Alibi geben

von Rafael Seligmann  19.12.2025

Chanukka

»Wegen einer Frau geschah das Wunder«

Zu den Helden der Makkabäer gehörten nicht nur tapfere Männer, sondern auch mutige Frauen

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  18.12.2025

Chanukka

Berliner Chanukka-Licht entzündet: Selbstkritik und ein Versprechen

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin am Mittwoch mit viel Politprominenz das vierte Licht an Europas größtem Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet

von Markus Geiler  18.12.2025

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025