Talmud

Gefangene Auslösen

Fordern die Freilassung der im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln: israelische Demonstranten am 28. Oktober in Tel Aviv Foto: picture alliance / Anadolu

»Pidjon Schewu’im«, die Auslösung von Gefangenen, ist eine Mizwa, die leider nie Theo­rie geblieben ist. Der Mehrheits­gesellschaft war schnell klar, dass Gemeinden viel Mühe aufwenden würden, um ihre Mitglieder zu befreien.

Die Mizwa geht auf das 1. Buch Mose 14, 14–15 zurück. Dort lesen wir, dass Awrahams Neffe Lot aus Sedom entführt wurde: »Als Awram hörte, dass sein Verwandter gefangen genommen worden war, ließ er seine erprobten Leute, die in seinem Haus geboren waren (…), ausrücken und setzte ihnen nach bis Dan. Des Nachts teilten er und seine Knechte sich in Gruppen, und er schlug sie und verfolgte sie bis Choba (…). Und er brachte alle Habe zurück, auch seinen Verwandten Lot (…) und auch die Frauen.«

MIZWA Im Talmudtraktat Baba Batra (8b) wird die Mizwa eine »große Mizwa« genannt. Rawa fragte Rabba bar Mari, woher »die Aussage der Weisen« kommt, dass die Befreiung von Gefangenen eine große Mizwa ist. »Rabba bar Mari sagte zu ihm: Wie geschrieben steht: ›Und es wird geschehen, wenn sie zu dir sagen: Wohin sollen wir gehen? Dann sollst du ihnen sagen: So spricht der Ewige: Die dem Tod verfallen sind, in den Tod; und die dem Schwert verfallen sind, in das Schwert; und die dem Hunger verfallen sind, in den Hunger; und die der Gefangenschaft verfallen sind, in die Gefangenschaft.‹« Rabba zitiert hier aus Jirmejahu (15,2).

»Und Rabbi Jochanan sagt: Die Strafe, die später in diesem Vers steht, ist härter als die davor.« Rabbi Jochanan fährt fort und erklärt die zitierten Strafen: Tod, Schwert, Hunger und Gefangenschaft. Dann schließt er: »Bei der Gefangenschaft ist alles vorhanden.« Er meint damit alle aufgezählten Strafen. Damit sagt er, dass Gefangene allem ausgesetzt werden könnten, denn sie sind der Willkür ihrer Geiselnehmer ausgesetzt. Es war also allen bewusst, was Geiseln oder Gefangene zu erwarten hatten.

Wie sollte die Praxis aussehen? Die Mischna (Gittin 4,6) sagt: »Man löse Gefangene nicht über ihren Wert aus – wegen der Ordnung der Welt. Man helfe Gefangenen nicht zur Flucht – wegen der Ordnung der Welt. Rabban Schimon, der Sohn Gamliels, sagt: wegen des Wohles der Gefangenen.«

FLUCHT Rabbiner Adin Steinsaltz (1937–2020) erklärte dazu, dass damit verhindert werden solle, dass die Entführer die Flucht der Gefangenen dadurch rächen, dass sie andere Gefangene mit Grausamkeit behandeln. Und über ihren Wert? Der Talmud versucht sich in einer Antwort (Gittin 45a): »Heißt es ›Ordnung der Welt‹ wegen der Überlastung der Gemeinde oder aber, damit sie nicht noch mehr zu Geiselnahmen angeregt werden? Komm und höre: Levi bar Darga löste seine Tochter für 12.000 Golddinar aus. Abajje erwiderte: ›Wer sagt uns, dass er dies mit Billigung der Weisen tat?‹«

Der Talmud sagt also: Wer es sich leisten kann, sollte den Betrag aufwenden. Wenn die Gemeinde es nicht kann, kann ihr das nicht zugemutet werden.

In Ketubot (52b) heißt es über einen Mann, dessen Frau entführt wird: »Wenn sie gefangen wird und man von ihm das Zehnfache ihres Wertes verlangt, so muss er sie das erste Mal loskaufen.«

Im Tur, einem grundlegenden halachi­schen Werk aus dem 14. Jahrhundert, formuliert Ja’akow ben Ascher für die Praxis: »Die Auslösung von Gefangenen geht der Unterstützung der Armen und ihrer Kleidung voraus, und es gibt keine so große Mizwa wie die Erlösung von Gefangenen.« Deshalb könne man, wenn man Geld für eine Mizwa vorgesehen hat, es für die Befreiung von Gefangenen verwenden. »Wir lösen Gefangene nicht für mehr als ihren Wert aus, wegen der Ordnung der Welt, damit unsere Feinde sich nicht anstrengen, zu entführen. Und selbst wenn ihre Verwandten sie für mehr als ihren Wert freikaufen wollen, lassen wir das nicht zu, aber ein Mann darf sich mit allem, was er besitzt, freikaufen, und das gilt auch für seine Frau, denn sie ist wie sein eigener Körper.«

Wie wir sehen, waren all diese Diskussionen niemals nur graue Theorie, sondern Spiegel jüdischer Lebenswirklichkeit – bis heute.

Gespräch

Beauftragter Klein: Kirche muss Antijudaismus aufarbeiten

Der deutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein kritisiert die Heiligsprechung des Italieners Carlo Acutis. Ihm geht es um antijüdische Aspekte. Klein äußert sich auch zum christlich-jüdischen Dialog - und zum Papst

von Leticia Witte  13.06.2025

Beha’Alotcha

Damit es hell bleibt

Wie wir ein Feuer entzünden und dafür sorgen, dass es nicht wieder ausgeht

von Rabbiner Joel Berger  13.06.2025

Talmudisches

Dankbarkeit lernen

Unsere Weisen über Hakarat haTov, wie sie den Menschen als Individuum trägt und die Gemeinschaft zusammenhält

von Diana Kaplan  13.06.2025

Tanach

Schwergewichtige Neuauflage

Der Koren-Verlag versucht sich an einer altorientalistischen Kontextualisierung der Bibel, ohne seine orthodoxen Leser zu verschrecken

von Igor Mendel Itkin  13.06.2025

Debatte

Eine »koschere« Arbeitsmoral

Leisten die Deutschen genug? Eine jüdische Perspektive auf das Thema Faulheit

von Sophie Bigot Goldblum  12.06.2025

Nasso

Damit die Liebe bleibt

Die Tora lehrt, wie wir mit Herausforderungen in der Ehe umgehen sollen

von Rabbiner Avichai Apel  06.06.2025

Bamidbar

Kinder kriegen – trotz allem

Was das Schicksal des jüdischen Volkes in Ägypten über den Wert des Lebens verrät

von Rabbiner Avraham Radbil  30.05.2025

Schawuot

Das Geheimnis der Mizwot

Der Überlieferung nach erhielt das jüdische Volk am Wochenfest die Tora am Berg Sinai. Enthält sie 613 Gebote, oder sind es mehr? Die Gelehrten diskutieren seit Jahrhunderten darüber

von Rabbiner Dovid Gernetz  30.05.2025

Tikkun Leil Schawuot

Nacht des Lernens

Die Gabe der Tora ist eine Einladung an alle. Weibliche und queere Perspektiven können das Verständnis dabei vertiefen

von Helene Shani Braun  30.05.2025