Jom Haazmaut

Gebete, Geschichte, Gesinnung

Chag sameach! Israelis feiern am liebsten draußen in großer Runde mit blauweißen Fähnchen, gemischtem Salat und leckerem Grillfleisch. Foto: dpa

Die jüdischen Gesetze, Traditionen und Bräuche sind im Gegensatz zu der weit verbreiteten Vorstellung nicht statisch. Sie entwickeln und verändern sich immer wieder aufs Neue. Der beste Beweis dafür ist die Megillat Taanit, ein rabbinisches Werk aus dem ersten Jahrhundert, welches von 35 ereignisreichen Tagen berichtet, die das jüdische Volk als freudig betrachtete und als Festtage behandelte. Die meisten dieser Feste sind in Vergessenheit geraten und aus dem jüdischen Kalender verschwunden. Neue Ereignisse, die das jüdische Volk beeinflussten, haben stattdessen ihren Platz im Festtagskalender eingenommen.

Dabei kann man zwischen Festen, die einzelne Gruppen feiern, und denen, die (fast) das gesamte jüdische Volk angenommen hat, unterscheiden. So sind Maimuna oder Sigt Feste, die nur von marokkanischen oder äthiopischen Juden begangen werden. Chassidim, insbesondere die von Chabad, haben Gedenktage für ihre Rabbiner als besondere Tage im Kalender vermerkt. Tu Bischwat hingegen wird von sehr vielen verschiedenen Gruppen gefeiert und gilt als Fest der Bäume, insbesondere im Staat Israel.

Freude Das vergangene Jahrhundert hat mit seinen tiefen Einschnitten für das jüdische Volk eine Reihe von neuen Festen ins Leben gerufen. Eines davon ist Jom Haazmaut, der Tag der Gründung des Staates Israel. Ein Fest der Freude über den neuen jüdischen Staat hat sowohl für die jüdischen Gemeinschaften weltweit als auch für die Juden in Israel eine nationale Bedeutung.

Zu diesen gesellschaftlichen Aspekten kommen aber auch religiöse hinzu. So hat Jom Haazmaut auch seit der Staatsgründung eine religiöse Bedeutung entwickelt, die immer mehr einen Einzug in die Gemeinden in Israel und in der Diaspora hat. So gibt es verschiedene liturgische Bräuche für diesen Tag. Neben der Tora- und Haftaralesung wird auch das Hallel- und das Al-Hanissim-Gebet gesagt.

Selbstverständlich ist dies eine kontrovers diskutierte Neuerung, die nicht von allen jüdischen Kreisen angenommen wird. So hat für viele charedische und chassidische Gemeinden dieser Tag keine besondere Bedeutung. Einige extremistische Gruppen sehen ihn sogar als Trauertag an, an dem sie entsprechende Kleidung tragen, schwarze Flaggen hissen und israelische Fahnen verbrennen.

Standpunkte Zu Gestalt und Inhalt der Liturgie des Unabhängigkeitstages gab es und gibt es unterschiedliche Standpunkte unter den verschiedenen Bewegungen des Judentums einerseits und innerhalb der Orthodoxie andererseits. So steht in einem Responsum des israelischen Oberrabbinats, dass es offensichtlich ist, dass das ganze Volk von Sklaverei, Bedrängnis und Tod in die Unabhängigkeit und Freiheit übergeht, und somit alle Juden daran beteiligt sind. Somit ist das Volk auch verpflichtet, diesen Feiertag als einen Tag der Wunder zu begehen. Daraus ergibt sich, dass an diesem Tag das Hallel in die Liturgie aufgenommen wird. Denn der Talmud (Pessachim 116a) schreibt vor, dass »in jeder Situation, in der Israel in Gefahr ist und davon loskommt, das Hallel gesagt werden soll«.

Neben diesem Brauch wurde auch die Lesung verschiedener Psalmen eingeführt, welche von der Erlösung sprechen, insbesondere der 107. Psalm, der die ewige Güte Gottes thematisiert.

Doch wie unterschiedlich die Ansichten und Traditionen sind, sieht man insbesondere am Schacharit, dem Morgengebet. In einigen Gemeinden wird an diesem Tag aus dem 5. Buch Moses gelesen, entweder aus dem 7. und 8. Kapitel, welche be-
schreiben, was nach der Landnahme der Israeliten passiert, oder dem 30. Kapitel, welches über die Rückkehr aus dem Exil nach Israel erzählt. Andere Gemeinden hingegen lesen nur aus der Tora, und dann auch nur den jeweiligen Abschnitt der Woche, wenn der Feiertag auf einen Montag oder Donnerstag fällt. Durchgesetzt hat sich dagegen die Tradition, als Haftara das 10. bis 12. Kapitel des Buches Jesaja zu lesen, welches von der Vision der messianischen Zeit berichtet. Und so gibt es auch ein besonderes Gebet danach, welches den Beginn der Erlösung des jüdischen Volkes erwähnt.

Auch in der Amida gibt es für diesen Tag einen besonderen Einschub, der sich eher in der nichtorthodoxen Welt durchgesetzt hat. So wird, wie auch zu Chanukka und zu Purim, das »Al Hanissim« für Jom Haazmaut eingeschoben, mit sehr unterschiedlichen Inhalten. So erwähnt die religiöse Kibbuzbewegung zum Beispiel die ersten Einwanderer, die das Land aus den Ruinen aufbauten. Ihr Gebet spricht davon, dass der Ewige den Menschen half, die Grenzen des Landes zu öffnen. Es schließt mit dem Wunsch ab, dass die Grenzen des Landes vom Euphrat bis zu den Bächen Ägyptens reichen sollen und der Tempel wiederaufgebaut werden möge. Die Varianten der Konservativen und der Reformbewegung erwähnen die Schoa und die Vernichtung des jüdischen Volkes und sprechen von der Rückkehr der Zerstreuten in das Land, ohne aber die Wie-
derherstellung des Tempels zu erwähnen.

Bräuche Neben den liturgischen Besonderheiten gibt es auch zahlreiche Bräuche, die sich in verschiedenen Gemeinden etabliert haben. So schlagen die Autoren des Gebetbuchs Seder Avodah le Yom haAtzmaut vor, am Abend ein Festessen wie am Schabbat und den Feiertagen zu veranstalten. Die israelische Reformbewegung hat in ihrem Gebetbuch einen speziellen Kiddusch eingeführt, welcher das 5. Buch Moses (Kapitel 8) zitiert. Auch das Schofar wird in vielen Gemeinden an diesem Tag als Zeichen der Erlösung geblasen.

Die zahlreichen Traditionen dieses Feiertages zeigen, dass das neue Fest ein fester Bestandteil der jüdischen Tradition geworden ist. Auch hier in der Diaspora hat er eine wichtige Bedeutung. Er zeigt, dass die Verbundenheit zu Israel vorhanden ist und dass dieser Staat uns allen am Herzen liegt, egal ob religiös oder weltlich. In dem Sinne: Moadim Lesimcha Legeula schlema, frohe Feiertage zur vollkommenen Erlösung!

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, Erfurt.

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024

Halacha

Die Aguna der Titanic

Am 14. April 1912 versanken mit dem berühmten Schiff auch jüdische Passagiere im eisigen Meer. Das Schicksal einer hinterbliebenen Frau bewegte einen Rabbiner zu einem außergewöhnlichen Psak

von Rabbiner Dovid Gernetz  11.04.2024

Berlin

Koscher Foodfestival bei Chabad

»Gerade jetzt ist es wichtig, das kulturelle Miteinander zu stärken«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal

 07.04.2024

Schemini

Äußerst gespalten

Was die vier unkoscheren Tiere Kamel, Kaninchen, Hase und Schwein mit dem Exil des jüdischen Volkes zu tun haben

von Gabriel Rubinshteyn  05.04.2024

Talmudisches

Die Kraft der Natur

Was unsere Weisen über Heilkräuter lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  05.04.2024