Neulich beim Kiddusch

Gebetbücher gegen Langeweile

Kürzlich war mir im Gottesdienst sehr langweilig. Vor uns lag einer der größeren Wochenabschnitte. Das war aber nicht der Grund meiner inneren Unruhe. Es war der Vorbeter! Ich habe ihn vorher noch nie bei uns gesehen, offenbar war heute seine Premiere. Er war alles in allem eine »L«-Erscheinung: langsam, leise, lispelnd und langweilig.

Nach jedem Satz flüsterte ihm der Mann rechts neben ihm zu, wie es weitergeht. Ich begann auf die Uhr zu gucken. In solchen Momenten verfluche ich meinen Berufsstand. Ich bin Grundschullehrer und kann bei langweiligen Gottesdiensten nicht einfach abhauen. Irgend- wo sitzt sicher ein Schüler, der zu mir rüberschielt.

Andererseits spüre ich in solch langatmigen Momenten, dass die Muskeln unter meinem Toches schlecht trainiert sind. Ich rutschte von einer Pobacke auf die andere und verfluchte den Vorbeter. Der bekommt 150 Euro für sein Gekrächze und ich Hämorrhoiden.

durchdrehen Nun, wie jeder Synagogengänger weiß, wird der Wochenabschnitt in sieben Teile gesplittet. Also nochmals Zeitverzögerung. Ich begann, langsam durchzudrehen. Es zeigte sich, dass der Vorbeter mit jedem Abschnitt noch schlechter wurde. Es war wie bei einem Gastgeber, der einem schlechtes Essen auftischt: Mit jedem Bissen wird es noch unerträglicher. Nach der vierten Unterbrechung bin ich dann aufgestanden. Mir wäre jetzt völlig egal gewesen, ob die ganze Schulklasse hinter mir gesessen hätte.

Ich lief zur Bücherwand mit den Gebetbüchern und Bibelerklärungen und tat so, als würde ich einer besonders schwierigen Textstelle auf den Grund gehen. In Wirklichkeit blätterte ich wahllos in den Büchern rum. Das tat mir gut. Es war wie kühle Luft bei schwülem Wetter.

Im obersten Regal lagen die Machsorim, die Gebetbücher für die Feiertage. Ich nahm eins nach dem anderen in die Hand – und wunderte mich. Auf der ersten Seite stand jeweils der Name des ursprünglichen Besitzers. Fast alle habe ich gekannt. Sie sind mittlerweile tot. Nachdem sie gestorben waren, haben ihre Nachkommen die Gebetbücher entweder in der Synagoge vergessen oder kein Interesse daran gezeigt. Auf jeden Fall liegen jetzt von fast allen verblichenen Mitgliedern Siddurim in der Synagoge.

Ich blickte zum Vorbeter, hörte nochmals kurz seinem grauenhaften Gejaule zu, und fürchtete mich plötzlich: Vielleicht sind sie alle bei solchen Darbietungen gestorben! Vielleicht liegen deswegen diese Unmengen Gebetbücher in un- seren Synagogen, als Memento mori und stiller Vorwurf an die Vorbeter.

Uff! So viele trübe Gedanken an einem sonnigen Schabbatmorgen! Der Gottesdienst war ja auch schon beinahe fertig. Als einer der Ersten rief ich später beim Kiddusch und ein bisschen lauter als sonst: »Lechajm«, auf das Leben!

Essay

Der Weltkirchenrat auf Abwegen

Die Organisation mit mehr als 350 meist protestantischen Kirchen stimmt in den Chor all derer ein, die ein antiisraelisches Lied nach dem anderen singen. Immer lauter. Immer wütender. Immer obsessiver

von Daniel Neumann  29.06.2025

Talmudisches

Beten gegen das Böse

Was unsere Weisen über den freien Willen und moralische Entscheidungen lehrten

von Vyacheslav Dobrovych  27.06.2025

Vertrauen

»Ich werde da sein«

Wo nur ist Gott auf dieser Welt? Er hat es Mosche gesagt

von Rabbiner David Kraus  27.06.2025

»Rising Lion«

Eine Löwin erhebt sich

Israels Militäroperation gegen den Iran trägt einen biblischen Namen. Was bedeutet er?

von Rabbiner Raphael Evers  27.06.2025

Korach

Um Himmels willen

Wahre Größe liegt nicht in Streit und Spaltung, sondern in Dialog und Demut

von Shlomo Rottman  26.06.2025

Kolpik

Alter Hut

Eine traditionelle Kopfbedeckung erzählt manches über ihren Besitzer

von Levi Israel Ufferfilge  20.06.2025

Schelach Lecha

Eine Frage der Ansicht

Was wir aus dem Blick der Kundschafter auf das Land Israel lernen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  20.06.2025

Essay

Es geschah an einem 23. Siwan

Eine Betrachtung zu einem historischen Datum in der jüdischen Geschichte und dem Zusammenhang mit aktuellen Ereignissen

von Jacques Abramowicz  19.06.2025

Talmudisches

Anti-Aging

Über natürliche Mittel gegen die Hautalterung

von Rabbinerin Yael Deusel  19.06.2025