Talmudisches

Füreinander bürgen

Ein Bürge verpflichtet sich dazu, für die Erfüllung der Verbindlichkeit eines anderen einstehen. Foto: Getty Images/iStockphoto

Talmudisches

Füreinander bürgen

Von der Verantwortung für andere

von Yizhak Ahren  04.06.2021 07:51 Uhr

Von einer Bürgschaft (hebräisch: Arewut) spricht man gewöhnlich, wenn es um eine Anleihe geht. Durch eine Bürgschaft sichert sich der Gläubiger für den Fall ab, dass sein Schuldner das geliehene Geld nicht zurückzahlen kann. In diesem Fall muss der Bürge, der sich vertraglich dazu verpflichtet hatte, für die Erfüllung der Verbindlichkeit einstehen.

Im Talmud ist von einer Arewut anderer Art die Rede. Der Vers »Sie werden straucheln einer durch seinen Bruder« (3. Buch Mose 26,37) wird, wie man aus Raschis Torakommentar lernen kann, im Talmud abweichend vom wörtlichen Sinn folgendermaßen ausgelegt: »Einer durch die Sünde seines Bruders. Dies lehrt, dass alle Israeliten füreinander verantwortlich sind« (Schawuot 39a und Sanhedrin 27b).

Verantwortung Die Frage drängt sich auf: Warum soll jemand für die Sünde eines anderen Juden verantwortlich sein und eine himmlische Strafe bekommen? Der Talmud erklärt: »Dies, wenn sie hätten protestieren können und es unterlassen haben.«

Eines der 248 positiven Gebote der Tora lautet: »Zur Rede stellen sollst du deinen Nächsten, dass du nicht seinetwegen Sünde tragest« (3. Buch Mose 19,17).

Rabbiner Samson Raphael Hirsch bemerkt dazu: »Wer durch Mahnung hätte bessern können und hat die Mahnung nicht versucht, trägt mit die Schuld, gegen die er nicht gewirkt hat. Denn einen Körper bilden wir, ein Glied ist für das andere Bürge. Der Gesamtheit ward die Tora gegeben; dass sie von der Gesamtheit erfüllt werde, soll das Bestreben jedes Einzelnen sein, seine Einzeltugend ist nicht das höchste.«

In seinem Buch der Mizwot erklärt Maimonides, der Rambam, gegen welche Einstellung die Pflicht der Zurechtweisung sich richtet: »Keiner von uns soll sagen: Ich werde nicht sündigen, und wenn ein anderer sündigt – was geht mich das an? Dieser Mensch hat sein Tun mit Gott auszumachen. Die Tora lehrt das Gegenteil: Beabsichtigt ein Jude zu sündigen, so sind die anderen verpflichtet, ihn zu ermahnen und auf den richtigen Weg zu bringen.«

Heutzutage hört man oft den abweisenden Spruch: »Mind your own business!« Bilden wir alle einen Körper, dann ist freilich Tun und Lassen des Nächsten auch mein Business.

Mizwot Das Prinzip der gegenseitigen Arewut bezieht sich nicht nur auf die Verhütung von Sünden, sondern ebenfalls auf die Unterstützung eines Bundesmitglieds bei seiner Erfüllung der Mizwot. Im Talmud heißt es: »Ahava, Sohn von Raw Zera, lehrte: Bei allen Segenssprüchen kann man, auch wenn man bereits sich selbst der Pflicht entledigt hat, andere der Pflicht entledigen, ausgenommen der Segenssprüche über das Brot und den Wein« (Rosch Haschana 29a).

Wieso darf jemand, der bereits seine Pflicht erfüllt hat, einen bestimmten Segensspruch noch einmal sagen? Unnötige Segenssprüche sind doch verboten! Rabbenu Nissim Ben Reuven aus Barcelona erläutert: »Alle Israeliten bürgen füreinander hinsichtlich der Mizwot-Erfüllung, und da sein Genosse die Pflicht bis jetzt nicht erfüllt habe, so ist es, als ob auch er die Mizwa noch erfüllen muss.« Als Bürge darf man für andere Juden den Segensspruch ein zweites Mal sagen.

Es bleibt noch zu klären, warum Segenssprüche über Brot und Wein eine Ausnahme bilden. Die Erklärung ist ganz einfach: Niemand ist verpflichtet, Brot zu essen oder Wein zu trinken, und daher gibt es keinen Bürgen.

Handelt es sich jedoch um Kiddusch-Wein, dann ist die Halacha natürlich anders: Diesmal besteht eine Bürgschaft, und derjenige, der für sich schon Kiddusch gemacht hat, darf für seine Glaubensgenossen noch einmal den Segensspruch über den Wein sagen.

Folgen Die Arewut-Regel hat praktische Konsequenzen. Wenn zum Beispiel Awraham vor dem Sukkotfest eine Laubhütte gebaut hat, sein Bruder Jakow aus irgendwelchen Gründen aber nicht, so ist Awraham verpflichtet, Jakow zu ermöglichen, während der Festwoche in seiner Laubhütte zu essen und damit eine Mizwa zu erfüllen.

Erwähnt sei eine weitere Auswirkung des Arewut-Prinzips. Wir sprechen das Sündenbekenntnis am Jom Kippur bekanntlich in der Mehrzahl. Sogar jemand, der ganz sicher ist, er persönlich habe eine bestimmte Sünde nicht begangen, kann diese Sünde doch bekennen, weil wir alle einen Körper bilden und jedes Glied Bürge für die anderen ist.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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