Recht

Fahrlässigkeit oder Vorsatz

»Gangsta-Pose«: Nicht jede, die eine Pistole zuckt, will auch wirklich töten. Foto: Fotolia

Unser Wochenabschnitt liest sich fast wie ein Krimi. Menschen sterben, manche werden sogar getötet. Vor Gericht unterscheidet man zwischen Mord und Totschlag. Aber wie verhält es sich in der Heiligen Schrift? Jemand ist getötet worden – so viel steht fest. Ein Kriminalist würde sich nun Folgendes fragen: Wer hat es getan? Wie geschah es? Und wie wurde die Tat geplant? War es »nur« ein Faustschlag, oder wurden gar Waffen benutzt? Wenn ja, welche Art von Waffen? Aus Stein, Stahl oder Holz? Und geschah die Tat aus Versehen oder mit Absicht?

Wer soll den Täter suchen? Und wenn man ihn gefunden hat, soll man ihn bestrafen, gar das Opfer rächen? Wer prüft und entscheidet das? Unter welchen Umständen darf der Täter – weil es vielleicht doch kein Mord war – in einer Stadt mit Mauern Schutz suchen? Wie lange darf er sich dort verstecken? Ein ganzes Leben lang? Das wäre eine Art freiwillige »Schutzhaft« – ein Wort, das die Nazis später für ihre Zwecke missbraucht haben. Aber als was sollen diese Städte verstanden werden: als Zufluchtsorte oder Gefängnisse?

Sechs davon soll es gegeben haben – drei westlich und drei östlich des Jordans. Das ist merkwürdig, denn auf der Ostseite lebten damals weit weniger Stämme als im Westen. Die Städte sind auch nicht näher benannt. Den Israeliten wurde befohlen, diese Städte zu errichten und dem Volk davon zu erzählen, damit alle wissen, wohin sie fliehen können.

Motiv Was aber steht im Wochenabschnitt über den Hintergrund einer Tötung? Motiv, Gelegenheit und Waffe sind bekanntlich die drei wichtigsten Faktoren für einen Mord. Was aber ist, wenn jemand etwas kocht und die Leute daran sterben? Welcher Bauer, Importeur oder Lebensmittelhersteller kann zum Beispiel für die Ehec-Keime verantwortlich gemacht werden?

In den sogenannten Zehn Geboten im 2. Buch Moses 20,13 steht »Lo tirzach« – »Du sollst nicht morden«. Viele – besonders Christen – lesen noch immer die Fehlübersetzung »Du sollst nicht töten«. Es gibt Menschen, die deshalb Vegetarier geworden sind. Leider haben sie den Text nicht im Original gelesen. Nichtsdestotrotz hätte ihnen auch in der Übersetzung auffallen müssen, dass noch im gleichen Kapitel (20, 21) steht, dass man bestimmte Tiere für Gott schlachten und Ihm opfern soll.

Nicht jedes Töten in der Bibel zählt als Mord. Das erste Beispiel in unserem Wochenabschnitt ist die Tötung als Strafe, zu der ein Blutsverwandter sogar verpflichtet ist. Auch Töten im Krieg gilt nicht als Mord, Selbstverteidigung im Kampf sowieso nicht, werden die Rabbiner sagen. Außerdem gibt es noch den Milhemet Mizwa, einen Krieg, um das Land Israel zu verteidigen oder Staatsfeinde zu töten. Auch heute ist dies sehr relevant, etwa wenn es um das Liquidieren von Terroristen wie Osama bin Laden geht.

Wie definieren wir heutzutage andere Arten des Tötens? Selbstverständlich gibt es für uns den Unterschied zwischen den Rechten von Menschen und denen von Tieren – auch wenn unsere Feinde das nicht immer verstanden und uns wie Tiere behandelt, geschweige denn, geschlachtet haben.

Im Judentum gilt Abtreibung nicht als Mord, denn ein Fötus ist noch nicht geboren. Demnach verfügt er über keine persönlichen Rechte, das ändert sich erst durch die Geburt. Und wie verhält es sich mit Sterbehilfe? Die passive Sterbehilfe erlaubt das Judentum, die aktive hingegen nicht. Und wie verhält es sich mit Selbsttötung?

Im Deutschen spricht man von Selbstmord, im Englischen von Suicide, Selbsttöten. So redet man im Deutschen von »Völkermord«, im Englischen hingegen von »Genocide«. Der Grund dafür sind unterschiedliche sprachliche Wurzeln. Wo also liegen die Grenzen zwischen Suizid und selbst gesuchtem Märtyrertum? Gibt es Umstände, unter denen ein Freitod besser ist, als mit einem schlechten Gewissen weiterzuleben?

Eichmann Und was ist mit der Todesstrafe? Die Tora erlaubt sie, in der Wüste gab es mangels Gefängnissen sowieso keine andere Möglichkeit. Die Rabbinen versuchten zu vermeiden, dass ein Angeklagter vorschnell zum Tode verurteilt wird. Sie verlangten so viele »koschere« Zeugen, dass einstimmige Sanhedrin-Beschlüsse fast unmöglich wurden.

Dadurch wurden nur ganz wenige mit dem Tode bestraft. Total abschaffen konnten allerdings auch die Rabbinen die Todesstrafe nicht. Adolf Eichmanns Verurteilung und Hinrichtung bleibt für uns ein Beispiel dafür, wie ein Staat bestimmte Menschen bestrafen darf: mit »Lebensentzug«, unter bestimmten, gerichtlich geklärten Umständen. Der Fall Eichmann ist Regel und Ausnahme zugleich.

Oftmals sucht man nach Katastrophen nach einem Sündenbock, der die Verantwortung tragen soll. Die Liste der möglichen Sündenböcke ist lang: Techniker, Piloten, Stellwerker ... Sie alle könnten an einem Unglück mitschuldig sein. Keiner von ihnen wollte anderen mutwillig Schaden zufügen, doch kamen Menschen ums Leben. Ist unter solchen Umständen Blutrache erlaubt?

Nein! Genau das ist der große Fortschritt unserer Zeit. Nach einem Todesfall findet eine Untersuchung mit anschließendem Prozess statt. Beweise werden geprüft und Zeugen befragt, damit man am Ende zwischen Mord und Totschlag unterscheiden kann.

Kriminalistik Im 4. Buch Moses 19,16 berichtet die Tora über Probleme, die entstehen, wenn jemand über eine Leiche auf dem Feld stolpert. Von solchen Entdeckungen lesen wir fast jeden Tag in den Zeitungen. Um die Todesumstände herauszufinden und den Täter zu identifizieren, sind gerichtsmedizinische und kriminalistische Unstersuchungen nötig.

Wir alle sind sterblich. Manche werden früher von uns gehen, als wir erwarten – sei es durch einen natürlichen oder unnatürlichen Tod. Wenn ein Mensch getötet wird, heißt das nicht zwangsweise, dass es mutwillig geschah. Es gibt die Bösen, und es gibt die Unglücklichen – jene, die bewusst getötet haben, und jene, die es aus Versehen taten. Dies zu unterscheiden, ist immens wichtig.

Der Autor ist Landesrabbiner von Schleswig-Holstein.

Paraschat Mass’ej
»Reisen« ist die deutsche Übersetzung des Wochenabschnitts Mass’ej. Und so beginnt er auch mit einer Liste aller Stationen der Reise durch die Wildnis von Ägypten bis zum Jordan. Mosche sagt den Israeliten, sie müssten die Bewohner des Landes vertreiben und ihre Götzenbilder zerstören. In diesem Abschnitt werden die Grenzen des Landes Israel festgehalten und sechs Levitenstädte sowie Zufluchtsorte für »Totschläger« bestimmt. Ebenfalls wird festgelegt, wie sich ein Mord von einem Totschlag unterscheidet. Gebote, die das Erben von Boden für Frauen regeln, beenden das Buch Bamidbar.
4. Buch Moses 33,1 – 36,13

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