Talmudisches

Eine Kränkung mit Folgen

Als Rav Rechumis Frau begriff, dass ihr Mann nicht wie in den Vorjahren zu Jom Kippur erscheinen würde, vergoss sie eine Träne. Foto: Getty Images/iStockphoto

In einer Mischna, in der es um die ehelichen Pflichten des Mannes geht, steht: »Die Jünger dürfen zum Studium der Tora 30 Tage ohne Einwilligung fortbleiben« (Ketuwot 61b). Der Talmud will wissen: »Und wie lange mit Einwilligung? – So lange er will.« Wenn die Frau einverstanden ist, darf der Ehemann also jahrelang in einer anderen Stadt studieren.

Der Fall von Rav Rechumi, einem babylonischen Amoräer der vierten Generation, ist nur vor dem Hintergrund der damaligen Praxis zu verstehen. Seine tragische Geschichte erzählt der Talmud in wenigen Zeilen, die allerdings erklärungsbedürftig sind.

Lehre »Rav Rechumi, der bei Raba in Machoza studierte, pflegte jedes Jahr am Vorabend von Jom Kippur nach Hause zu gehen. An jenem Tag aber zog ihn die Lehre in ihren Bann. Seine Frau erwartete sein Kommen: Jetzt kommt er! Jetzt kommt er! Doch er kam nicht. Da war sie niedergeschlagen, und eine Träne floss aus ihrem Auge. Rav Rechumi saß auf dem Dach des Lehrhauses; da brach das Dach unter ihm zusammen, und er starb« (Ketuwot 62b).

Es drängen sich sofort mindestens zwei Fragen auf. Warum pflegte Rav Rechumi ausgerechnet am Vorabend von Jom Kippur nach Hause zurückzukehren? Bekanntlich ist, wie die Mischna in Joma (73b) feststellt, am Versöhnungstag nicht nur das Essen und das Trinken verboten, sondern auch der eheliche Verkehr.

Der israelische Talmudgelehrte Admiel Kosman hat die kühne These vertreten, dass Rav Rechumi von einer christlichen Auffassung beeinflusst war, nach der ein Mensch Gott nur durch sexuelle Enthaltsamkeit nahekommen könne. Kosman vermutet gar, dass Rav Rechumi nicht nur wegen des bedeutenden Lehrers Raba in Machoza lebte, sondern auch deshalb, weil er dort ein Leben ohne Geschlechtsverkehr führen konnte.

Nach dieser (vielleicht ketzerisch anmutenden) Interpretation kritisiert unsere talmudische Erzählung Rav Rechumis unjüdische Haltung.

Liebe Eine andere Lesart der Geschichte hat Rabbiner Esriel Ariel vorgetragen. Seiner Ansicht nach macht gerade Jom Kippur uns darauf aufmerksam, dass die Liebe zu Gott und die Liebe zur Ehefrau einander ergänzen. Der Kohen Gadol, der den Dienst im Heiligtum am Versöhnungstag zu verrichten hatte, musste unbedingt verheiratet sein (Joma 2a).

Und die Mischna (Taanit 4,8) berichtet, dass Jom Kippur als Tag für die Eheanbahnung gesehen wurde. Rav Rechumis Termin für seine Rückkehr deutet an, dass er die Beziehung zu seiner Frau auf die höchste Stufe stellen wollte – durch eine Kombination beider Formen der Liebe. Gescheitert ist Rav Rechumi, weil er an seinem letzten Tag vor lauter Gottes- und Tora-Liebe die menschliche Seite vergaß.

Strafe Eine ganz andere Frage, die einige Interpreten beschäftigt hat, betrifft Rav Rechumis Strafe. Als die Frau begriff, dass ihr Mann nicht wie in den Vorjahren zu Jom Kippur erscheinen würde, vergoss sie eine Träne. Wir verstehen, dass Gott den gelehrten Mann wegen Verletzung der Gefühle seiner Gattin bestraft. Aber wir wundern uns: Wurde die Frau nicht ebenfalls bestraft, indem sie ihren Mann verlor?

Rabbiner Chaim Schmulewitsch (1902–1979) erklärte, dass man Rav Rechumis Tod keinesfalls als eine Art Wiedergutmachung verstehen darf. Vielmehr zeige der Vorfall in plakativer Weise, dass jede Person, die einen anderen Menschen kränkt, automatisch sich selbst einen Schaden zufügt.

Was lehrt uns Rav Rechumis Geschichte, die übrigens von der israelischen Gimzu Blues Band als Ballade gesungen wurde? Dass sogar ein beflissener Tora-Gelehrter einen anderen Menschen verletzen kann, wenn er nicht sehr achtsam ist.

Man kann also gar nicht vorsichtig genug sein! Der Kummer der Gekränkten bleibt nicht unbeachtet: »Die Pforten der Tränen sind nie verschlossen« (Berachot 32b).

Gespräch

Beauftragter Klein: Kirche muss Antijudaismus aufarbeiten

Der deutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein kritisiert die Heiligsprechung des Italieners Carlo Acutis. Ihm geht es um antijüdische Aspekte. Klein äußert sich auch zum christlich-jüdischen Dialog - und zum Papst

von Leticia Witte  13.06.2025

Beha’Alotcha

Damit es hell bleibt

Wie wir ein Feuer entzünden und dafür sorgen, dass es nicht wieder ausgeht

von Rabbiner Joel Berger  13.06.2025

Talmudisches

Dankbarkeit lernen

Unsere Weisen über Hakarat haTov, wie sie den Menschen als Individuum trägt und die Gemeinschaft zusammenhält

von Diana Kaplan  13.06.2025

Tanach

Schwergewichtige Neuauflage

Der Koren-Verlag versucht sich an einer altorientalistischen Kontextualisierung der Bibel, ohne seine orthodoxen Leser zu verschrecken

von Igor Mendel Itkin  13.06.2025

Debatte

Eine »koschere« Arbeitsmoral

Leisten die Deutschen genug? Eine jüdische Perspektive auf das Thema Faulheit

von Sophie Bigot Goldblum  12.06.2025

Nasso

Damit die Liebe bleibt

Die Tora lehrt, wie wir mit Herausforderungen in der Ehe umgehen sollen

von Rabbiner Avichai Apel  06.06.2025

Bamidbar

Kinder kriegen – trotz allem

Was das Schicksal des jüdischen Volkes in Ägypten über den Wert des Lebens verrät

von Rabbiner Avraham Radbil  30.05.2025

Schawuot

Das Geheimnis der Mizwot

Der Überlieferung nach erhielt das jüdische Volk am Wochenfest die Tora am Berg Sinai. Enthält sie 613 Gebote, oder sind es mehr? Die Gelehrten diskutieren seit Jahrhunderten darüber

von Rabbiner Dovid Gernetz  30.05.2025

Tikkun Leil Schawuot

Nacht des Lernens

Die Gabe der Tora ist eine Einladung an alle. Weibliche und queere Perspektiven können das Verständnis dabei vertiefen

von Helene Shani Braun  30.05.2025