Israel beschäftigt zurzeit eine Frage, die an die moralischen Prinzipien des jüdischen Volkes rührt. Premierminister Benjamin Netanjahu hat Präsident Isaac Herzog um Begnadigung gebeten. Ein persönliches Gesuch, heißt es – keine politische Berechnung. Doch der Antrag spaltet das Land. Ist Gnade ein Werkzeug der Versöhnung – oder ein gefährlicher Dammbruch, der den Rechtsstaat erodieren lässt?
In modernen Demokratien ist Begnadigung eine Ausnahme, ein letzter Rettungsring. Der Präsident handelt im Namen des Staates, über Fraktionen, über Machtarithmetik hinweg. Herzog weiß: Egal, ob die Antwort »Ja« oder »Nein« lautet, die Straße wird explodieren. Die Unterstützer Netanjahus argumentieren mit Dankbarkeit – ein Mann, der jahrzehntelang Sicherheit und Wohlstand gebracht habe, verdiene Schonung. Die Gegner sprechen von Missbrauch – wenn Führer sich selbst oder ihre Verbündeten begnadigen können, wer glaubt dann noch an die Justiz?
Das Ringen um Gnade ist so alt wie die jüdische Tradition selbst
Das Ringen um Gnade ist so alt wie die jüdische Tradition selbst. Wer im Tanach blättert, findet allerdings keine juristischen Akten, sondern einen Dialog zwischen Mensch und G’tt. Die biblischen Machthaber kannten kein offizielles Gnadenrecht. David, der Hirtenjunge, der König wurde, konnte keinen Verurteilten freisprechen, nur weil es ihm nützte. Er war Herrscher – aber nicht Herr über Moral. Über ihm standen Propheten, Gesetz und die kritische Öffentlichkeit. Als er mit Batscheva sündigte, kam Nathan zu ihm und appellierte an sein Gewissen. Kein Komitee. Keine Hinterzimmerdeals. Der Tanach beschreibt Reue, aber keine juristische Abkürzung.
Die Halacha kennt Gnade als Rechtsinstrument kaum. Es gibt zwar Spielräume: Strafen konnten gemildert werden, wenn Zweifel am Urteil bestanden. Die Weisen gingen weit – sehr weit –, um die Todesstrafe zu vermeiden. In der Mischna heißt es: Ein Gericht, das einmal in 70 Jahren jemanden hinrichtet, gilt bereits als »blutrünstig«. Die Rabbiner wollten nicht die Justiz umgehen, sondern drakonische Strafen verhindern.
Zudem beschreibt die Tora eine tiefere Dimension von Gnade: Sie ist primär g’ttlich. In der Jom-Kippur-Liturgie werden die »13 Eigenschaften« G’ttes aufgezählt. Weit vorn: rachum vechanun – barmherzig und gnädig. Der Mensch soll diese Qualitäten nachahmen, doch nie erreicht er sie vollständig. Politische Begnadigung bewegt sich deshalb in gefährlichem Gelände: ein sterblicher Anführer, der sich ein g’ttliches Attribut leiht – kann das gutgehen?
Hier prallen drei Begriffe aufeinander, die oft verwechselt werden: Teschuwa, Selicha, Chen.
Hier prallen drei Begriffe aufeinander, die oft verwechselt werden: Teschuwa, Selicha, Chen. Teschuwa ist Umkehr: Fehler eingestehen, Unrecht wiedergutmachen, neu anfangen. Aber ohne Abkürzungen: Selbst ein reuiger Mörder bleibt ein Mörder vor dem Gesetz.
Selicha ist Vergebung durch die verletzte Person. Wer vergibt, löscht aus – moralisch und juristisch. Der Nachbar, dem ich die Schuld erlasse, schuldet nichts mehr. Staatsanwälte können nicht verzeihen, aber sie können Verfahren einstellen – und so wird Strafe umgangen.
Chen, Gnade, steht über alldem. Sie ist ein Geschenk. Keine Forderung, nur ein Flehen. Wer Gnade erhält, wird vom Recht entbunden. Nicht als Individuum, sondern als Symbol der Nation.
Netanjahus Antrag berührt in Israel einen Dreiklang: Recht, Politik, Moral
Netanjahus Antrag berührt in Israel einen Dreiklang: Recht, Politik, Moral. Juristen müssen entscheiden, ob der Mann Gnade verdient. Der Präsident muss abwägen, ob die Gesellschaft diese Last überhaupt tragen kann. Und die Bürger bleiben zurück mit der letzten Frage: Ist Gnade überhaupt von Menschen zu gewähren – oder ist es usurpierte G’ttlichkeit?
In den kommenden Wochen steht Präsident Herzog vor einer Wahl, die beide Seiten als historische Weichenstellung lesen werden. Sagt er »Nein« – im Namen des Rechtsstaats? Oder »Ja« – im Namen der Versöhnung? Was auch geschieht: Israel lernt erneut, dass Begnadigung niemals ein rein administrativer Akt ist. Wie bereits in biblischen Zeiten, ist sie ein Spiegel, in dem ein Volk sein Inneres erkennt, seine eigene Seele betrachtet.