Transplantation

Ein Tierherz für Menschen?

Tiere dürfen laut der jüdischen Tradition genutzt werden, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Das gilt auch für tierische Organe. Foto: Getty Images / istock

Nach der großen Sintflut änderte sich die Beziehung zwischen Mensch und Tier. Als Noach und seine Söhne die Arche verließen, durften sie Tiere als Nahrung zu sich nehmen (1. Buch Mose 9,3). Das Judentum lehnt es ab, Tiere unnötig zu verletzen, aber sie dürfen genutzt werden, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen.

Menschen werden »höher« als Tiere angesehen. In der Schöpfungsgeschichte (1. Buch Mose a, 29–31) erfährt man, dass die Menschen vor der Sintflut nur samenhaltige Pflanzen aßen. Auch im eschatologischen Weltbild heißt es dem Propheten Jesaja (11,7) zufolge: »Und der Löwe wird Stroh essen wie das Vieh.«

Diese Texte beschreiben jedoch eine Idealsituation, die zu Beginn unserer Welt existierte und erst in der Zeit des Maschiach wieder existieren wird. Weder in der schriftlichen noch in der mündlichen Tora wird explizit erwähnt, dass Vegetarismus im Judentum als ideale Lebensweise angesehen wird oder dass Xenotransplantation (das Übertragen von lebenden Zellen, Gewebe oder Organen von einer Art zur anderen) verboten werden sollte.

Gespräche In den vergangenen Jahren wurden Rabbiner mit der Frage konfrontiert, ob die Xenotransplantation laut Halacha erlaubt ist. In Gesprächen mit Christen sind diese oft vom jüdischen Standpunkt dazu überrascht. Nichtjuden essen Schweinefleisch, haben aber oft größte Schwierigkeiten mit einem Schweineherzen im Menschen. Im Judentum ist das anders.

 

Schweinekotelett auf dem Teller ist ein Problem. Das Schweineherz im Menschenkörper nicht.

Obwohl wir kein Schweinekotelett auf unserem Teller ertragen, haben die Rabbiner keine Probleme mit der Transplantation von Schweineorganen. Im 3. Buch Mose steht zwar, dass »Schweine für sie unrein sind«, aber das Verbot beinhaltet nur das Essen von Schweinefleisch. Besonders, wenn es um die Rettung des Lebens geht, erlauben alle rabbinischen Autoritäten die Transplantation von Schweineherzen in den Menschen.

Aber es stellen sich in dem Zusammenhang noch viele andere Fragen. Kann man einen Menschen mit einem Schwei­neherzen als »nach dem Bild G’ttes geschaffen« bezeichnen? Gehen wir nicht einen Schritt zu weit auf dem Weg zu den griechischen Mensch-Tier-Chimären, also Mischwesen? Es bleibt ein Dilemma. Verändert sich der Mensch, wenn er tierische Organe in sich hat? Übertreten wir nicht das biblische Verbot der Vermischung von Tierarten? Ist dieser Mensch noch ein Mensch?

Lebensrettung Das Judentum sieht im Schweineherzen nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein wichtiges technisches Ersatzteil, das den Körper und damit auch das »g’ttliche Bild«, die Seele, am Leben erhält. Der höhere Seelenaspekt des Menschen ist mit dem Gehirn verbunden. Solange sie identisch bleiben, ist der Mensch immer noch sein ursprüngliches Selbst. Das »g’ttliche Bild« – sein Seelenleben – bleibt nach der Xenotransplantation intakt.

Die Vermischung verschiedener Tierarten – wie Pferd und Esel – ist in der Bibel tatsächlich verboten. Aber wenn es darum geht, Leben zu retten, wird dieses Verbot außer Kraft gesetzt. Dennoch ist es sicher richtig, dass eine Person, die Tierorgane in sich hat, problematisch sein könnte. Der Gedanke, dass »man ist, was man isst«, ist dem Judentum nicht völlig fremd, aber das bedeutet nicht, dass der Mensch tierische Züge annimmt, sobald er einer Xenotransplantation unterzogen wird. Die Erfahrungen mit Herzklappen von Schweinen weisen nicht in diese Richtung.

Mensch-Tier-Beziehung Tatsächlich stellt sich hier die Frage nach der jüdischen Sicht des Verhältnisses von Mensch und Tier. Können wir Tiere als »Testfälle« oder Organbanken verwenden? Da Tierversuche aus der medizinischen Wissenschaft nicht mehr wegzudenken sind, stellt sich diese Frage immer dringlicher.

Auch das Tierrecht hat in den letzten Jahrzehnten an Interesse gewonnen. Die Tora ist heute das fortschrittlichste Zeugnis der Antike, in dem die Rechte der Tiere geschützt wurden. Wer verhindert, dass ein Tier während seiner Arbeit frisst, wird streng bestraft.

Die Tora kennt keine Tierrechte, sondern nur Menschenpflichten.

Während des siebten Jahres, des Schabbatjahres, müssen alle Tiere von den Erträgen der brachliegenden Felder essen dürfen. Einem Tier, das Gefahr läuft, seiner Last zu erliegen, muss geholfen werden. Bevor du selbst an den Tisch gehst, gibst du deinen Tieren zu essen. In den Zehn Geboten wird auch den Tieren befohlen, sich am Schabbat auszuruhen.

Rabbiner Mosche Feinstein, eine amerikanische halachische Autorität, verurteilte grausame Praktiken der modernen »Bioindustrie«. Doch in der jüdischen Literatur steht der Mensch im Mittelpunkt und nicht das Tier. Die Tora kennt keine Tierrechte, nur Menschenpflichten. Tieren Leid zuzufügen, erniedrigt den Menschen, und Tierschutz erhöht den moralischen Charakter einer Gesellschaft. Wir können also Tiere als Spender einsetzen.

viren Viel wichtiger ist die Frage, ob die Xenotransplantation große Risiken für die öffentliche Gesundheit mit sich bringt. Neben Abstoßungsreaktionen spielt das Kontaminationsrisiko eine große Rolle. Mindestens drei Retroviren wurden bei Schweinen gefunden, die während der Transplantation übertragen wurden. Wenn sich diese Erreger einmal in den Körper eingeschlichen haben, bekommt man sie kaum noch heraus. Der amerikanische Immunologe Fritz Bach sieht darin eine erhebliche Gefahr. Seine größte Sorge ist, dass sich die Viren in der Bevölkerung ausbreiten. Gibt es ein umfassendes Krisenmanagement, das die öffentliche Gesundheit gewährleistet?

Eine Studie zu diesem Thema wurde vor einiger Zeit in England veröffentlicht. Damit eine Kontamination verhindert werden kann, sollten alle Personen, die mit dem Organempfänger Körperflüssigkeiten ausgetauscht haben, medizinisch überwacht werden. 2017 konnten zudem erstmals Schweine gezüchtet werden, aus deren Genom potenziell gefährliche Sequenzen entfernt wurden.

überwachung Viele Xenotransplantations-Kommissionen ziehen eine freiwillige Zusammenarbeit einer erzwungenen ärztlichen Überwachung vor. Denn die Sorgfaltspflicht aller Bürger, eine Schädigung ihrer Mitmenschen so weit wie möglich zu verhindern oder zu begrenzen, ist zivilrechtlich noch nicht verankert.

Aber in der Tora – vor mehr als 3300 Jahren auf dem Berg Sinai gegeben – wird dies bereits zur Grundregel des Sozialverhaltens erklärt: »Ihr werdet nicht tatenlos zusehen, wie jemand anderes körperlich oder geistig zerstört wird« (3. Buch Mose 19,16).

Diese Regel lässt dem Empfänger und seinen Angehörigen keine Wahl. Zwar rechtfertigt ein geringes Gesundheitsrisiko für die Gesamtbevölkerung kein Veto gegen diese vielversprechende und dringend notwendige medizinische Entwicklung, doch sollten die Empfänger uneingeschränkt und vorbehaltlos an Untersuchungen mitwirken, die das Infektionsrisiko verringern können. Ein ethischer Tora-Standard, den niemand ignorieren kann.

Was die philosophische Seite des Themas betrifft, so gibt es im Judentum zwei Strömungen.

Vegetarismus Was die philosophische Seite des Themas betrifft, so gibt es im Judentum zwei Strömungen. Einige Rabbiner scheinen eine vegetarische Lebenseinstellung zu unterstützen. Sie betrachten die gegenwärtige Mensch-Tier-Beziehung, in welcher der Mensch das Tier schlachtet, als Ausdruck des gefallenen Zustandes des Menschen. Andere, wie Rabbiner Schneur Zalman aus Liadi (1745–1813), sehen die Beziehung zwischen Mensch und Tier aus einer völlig anderen Perspektive.

»Wenn ein Mensch Fleisch isst, um sich für den G’ttesdienst zu stärken und für das Lernen der Tora, oder um am Schabbat zuzuhören, dann wird dieses Fleisch gewissermaßen, durch die Stärkung der Energie für den G’ttesdienst, erhöht. Es gleicht einem Opfer.

Mit anderen Worten, wenn eine Kuh ein ungestörtes Leben führt und natürlich stirbt, dann war es einfach eine Kuh. Aber wenn die Kuh geschlachtet und schließlich für einen höheren Zweck verwendet wird, dann wurde die Kuh ihrer rein physischen Existenz enthoben und zu einer höheren Ebene der geweihten Dienstbarkeit erhoben.«

Dieses Argument könnte auch in Zusammenhang mit der tierischen Organspende vorgebracht werden. Wir erkennen erneut, dass das Judentum eine ausgesprochen pragmatische Religion ist. Eine Vorliebe für Vegetarismus ist weder vorgeschrieben noch verboten. Kann ein Tierorgan aber helfen, einen Menschen zu retten, steht der Tötung des Tiers zu diesem Zweck nichts im Weg.

Der Autor ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Dajan beim Europäischen Beit Din und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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