Im September erlebte die jüdische Gemeinde der Niederlande einen besonderen Moment der Anerkennung: An den Feierlichkeiten zum 350-jährigen Bestehen der ehrwürdigen Esnoga, der Portugiesischen Synagoge in Amsterdam, nahm König Willem-Alexander persönlich teil. In diesem Augenblick lag die Entscheidung bei mir als Rabbiner: Sollten wir in Anwesenheit Seiner Majestät den besonderen Segensspruch sprechen oder nicht?
In der jüdischen Liturgie gibt es einen fast geheimnisvollen Spruch, der heute nur noch selten gesagt wird: »Baruch Ata Adonai, Eloheinu Melech HaʼOlam, schenatan miKewodo leWasar weDam« – Gepriesen seist Du, Ewiger, unser G’tt, König des Universums, der von Seiner Ehre Fleisch und Blut verliehen hat.
Der Segen wird gesprochen, wenn man einem Herrscher begegnet, der wirkliche Macht besitzt, dessen Worte Gesetzeskraft haben und dessen Gestalt die Aura der Souveränität trägt. Doch hinter dieser scheinbar schlichten Formel verbirgt sich ein Kosmos an philosophischen und mystischen Dimensionen – und halachischen Fragen. Eine davon musste ich nun beantworten: Sollen wir als Gemeinde den Segen auf einen heute amtierenden König sprechen? Es ging nicht um einen König aus einem Märchen, sondern um einen »aus Fleisch und Blut«, wie es im Segensspruch heißt.
Ich musste zurückdenken an einen anderen gewichtigen Tag: die Beerdigung des ermordeten israelischen Premierministers Yitzhak Rabin am 6. November 1995 auf dem Herzlberg in Jerusalem. Zwei Tage nach der Tragödie versammelten sich dort Könige, Präsidenten und Premiers aus aller Welt – unter ihnen Bill Clinton, König Hussein von Jordanien und Königin Beatrix der Niederlande. Als niederländischer Vertreter unter den Trauernden stellte sich uns Rabbinern die Frage: Über wessen majestätischen Anblick sollten wir den uralten Segensspruch sprechen?
Der Talmud (Berachot 58a) kennt eine ganze Reihe von Segenssprüchen für besondere Augenblicke – Naturereignisse ebenso wie einzigartige menschliche Erfahrungen. Auch der Anblick eines Königs gehört in diese Kategorie, denn er macht uns die Herrlichkeit G’ttes in der menschlichen Würde bewusst.
Der Schulchan Aruch (Orach Chajim 224,8) legt fest, dass die Bracha über einen König zu sprechen ist, der wirkliche Herrschaft ausübt. Damit deutet die Halacha an: Irdische Macht ist Spiegelbild der g’ttlichen Regentschaft. Das heißt aber nicht, dass das Judentum einen menschlichen Herrscher als g’ttlich ansieht, wie etwa die Pharaonen im alten Ägypten. Ganz im Gegenteil drückt der Segen keine Unterwürfigkeit gegenüber dem König aus, sondern eine Anerkennung der Einmischung G’ttes in die Welt.
Was gilt heute als Königtum? Wer hat die Macht, über Leben und Tod zu entscheiden?
Warum danken wir G’tt für den Anblick eines irdischen Königs? Der Talmud lehrt: »Die Herrschaft auf Erden gleicht der Herrschaft des Himmels« (Berachot 58). Das bedeutet: Die Autorität eines Monarchen ist nicht Selbstzweck, sondern Gleichnis. Der Segensspruch ehrt nicht den Herrscher selbst, sondern G’tt, der »von Seiner Ehre Fleisch und Blut verliehen hat«. Die Kabbala sieht in der irdischen Monarchie ein Gefäß für die Sefira Malchut, das g’ttliche Prinzip der Souveränität. Wer einen König erblickt, mag also im Zeremoniellen nur Pracht und Protokoll sehen – doch die Seele erkennt darin ein Echo der himmlischen Ordnung.
Hier aber beginnt die Debatte: Genügt in unserer Zeit für dieses Gleichnis ein konstitutioneller Monarch, dessen Rolle vornehmlich zeremoniell ist? Rabbi Mosche Sofer, der Chatam Sofer, beharrte im 19. Jahrhundert darauf, dass der Segen nur für einen Herrscher mit realer Macht über Leben und Tod gilt. Also zum Beispiel jemand, der die Todesstrafe beantragen oder zu Tode Verurteilte begnadigen kann. Andere Rabbiner meinen: Auch symbolische Macht, wenn sie von Millionen Menschen anerkannt wird, ist Ausdruck königlicher Würde. Und wieder andere dehnen dies gar auf Präsidenten oder Ministerpräsidenten aus, die tatsächliche Entscheidungsgewalt innehaben.
So begegneten Rabbiner in den Niederlanden Königin Wilhelmina, Königin Juliana und Königin Beatrix unterschiedlich. Weil ihre Macht vornehmlich repräsentativ war, herrschten geteilte Meinungen: Manche sprachen den Segen in verkürzter Form, ohne den heiligen Namen Gʼttes. In der modernen Welt, in der die meisten Juden in demokratischen Gesellschaften leben, begegnet man nur selten monarchischer Macht. Der Besuch von König Willem-Alexander in unserer Amsterdamer Synagoge war also eine seltene Gelegenheit. Ich entschied mich, den Segensspruch zu sprechen – im Bewusstsein, dass meine Lehrer mich gelehrt hatten, dass dies auch der überlieferte Brauch des niederländischen Judentums sei.
Zudem bleibt für mich der Gedanke der Bracha lebendig. Sie ist mehr als nur ein Ritual: Sie ist eine Übung in Demut. Macht und Glanz gehören nicht dem Menschen, sondern sind Gaben, die sorgfältig und verantwortungsvoll verwaltet werden müssen.
Wer heutzutage die Pracht eines Monarchen sieht und den uralten Segensspruch spricht, erinnert sich daran, dass alle irdische Herrschaft nur ein Schatten ist – ein blasser Widerschein der unendlichen Majestät G’ttes.
Der Autor wurde in Amsterdam geboren und ist als Rabbiner und Dayan in den Niederlanden und Deutschland tätig. Heute lebt er in Israel.