Krisen

Ein neuer Inspirationsschub

Wir müssen erkennen, was kleine Kinder im Kindergarten lernen: dass alles neue Leben entsteht, nachdem die Saat fast verdorben ist. Foto: Getty Images/iStockphoto

Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem (70 n.d.Z.) begann das große Exil Roms, das 2000 Jahre dauern sollte. Inzwischen ist fast die Hälfte aller Juden nach Eretz Israel zurückgekehrt.

Mit dem Fastentag des 17. Tamus (dieses Jahr fällt dieser Tag auf den 6. Juli) beginnt die dreiwöchige Trauerzeit wegen der Zerstörung des Tempels. Am 17. Tag des jüdischen Monats Tamus durchbrachen die Römer die Mauern von Jerusalem. Drei Wochen später, an Tischa beAw, dem neunten Tag des Monats Aw, ging der Tempel – und damit die Unabhängigkeit Israels – in Flammen auf. Viele Tausende Juden sitzen jedes Jahr an Tischa beAw trauernd auf dem Boden in der Nähe der Kotel.

schlechte zeiten Über Rezessionen und andere traurige Zustände hat der frühere britische Oberrabbiner Jonathan Sacks sel. A. einmal geschrieben: »Was sollten wir in schlechten Zeiten tun? Die beste Antwort kam von einem amerikanischen Politiker: ›Vergeude nie eine Krise. In harten Zeiten lernt man am meisten.‹ Das chinesische Schriftzeichen für Krise bedeutet auch Möglichkeit oder Gelegenheit. Vielleicht erklärt dies, warum es die Chinesen schon so lange gibt. Das Hebräische geht noch einen Schritt weiter: Das hebräische Wort für Krise ist ›Maschber‹, was auch ›Gebärstuhl‹ bedeutet. Im Hebräischen sind Krisen also Geburtswehen. Etwas Neues wird geboren. Das ist auch der Grund, warum wir alle Krisen der letzten 4000 Jahre überlebt haben und sogar gestärkt daraus hervorgegangen sind.«

Um unsere Situation zu verstehen, müssen wir zum Beginn unserer Geschichte zurückkehren. Die jüdische Geschichte wiederholt sich ständig. In unserer grauen Vorzeit können wir die Antwort auf alle unsere modernen Probleme finden. Nehmen wir unser größtes Problem heute: die Assimilation. In jeder Generation verlieren wir 80 Prozent unseres Judentums, sei es qualitativ oder quantitativ.

Aber darauf wurde schon beim Auszug aus Ägypten hingewiesen. »Ein Fünftel der Juden zog aus Ägypten aus« (2. Buch Mose 13,18). Wie viele Juden verließen Ägypten? Etwa 20 Prozent. Der Rest war in der ägyptischen Masse verschwunden.

Ab dem 17. Tamus sind alle Feiern verboten. Ab dem 1. Aw verzichten wir auf Wein und Fleisch.

Ein weiterer Aspekt des Exodus war, dass wir immer in einer Art Krise gelebt haben. Mit Pessach in der Seder-Nacht erleben wir unser Volkstum neu. Unter der hoffnungslosesten, bedrückendsten Knechtschaft wurde ein Volk geboren, das sich allen soziologischen Konventionen widersetzte. Israel wurde zu einem Volk in einem fremden Land. Alle Bürgerrechte waren uns verwehrt worden. Die Zukunft schien verloren. Säuglinge wurden in den Nil geworfen. Wir wurden in Blut geboren und sollten weiterhin in Blut leben, dem Symbol für ein Leben der Selbstaufopferung, um die einzige Wahrheit zu verkünden: die Einheit G’ttes.

GEBURTSWEHEN Es war der Prophet Jechezkel (Hesekiel), der die Geburts­wehen unseres Volkes so treffend beschrieb: »Ich ging über dich hinweg und sah dich in deinem Blut wälzen, und ich sagte zu dir: In eurem Blut werdet ihr leben.« Das auserwählte Volk war für eine ganz andere Dimension des Lebens bestimmt.

Selbst in Ägypten haben wir wegen unseres Glaubens durchgehalten. Aber der Glaube nach der übernatürlichen Befreiung nahm einen völlig anderen Charakter an. Er wurde zu einem Glauben an die rettende und erneuernde Kraft des Höchsten Wesens in seiner Beziehung zum jüdischen Volk.
Während der drei Trauerwochen befinden wir uns in einer deutlichen Krise. Aber es bleibt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Seit 2000 Jahren beten, hoffen und sehnen wir uns nach der Rückkehr nach Israel und dem Wiederaufbau Jerusalems. Die Versammlung der jüdischen Exilanten aus allen vier Himmelsrichtungen ist in vollem Gange. Im Jahr 1967 haben wir Jerusalem, den Tempelberg und die Klagemauer zurückerobert: »Wenn wir es wollen, ist es kein Märchen.«

Wir müssen erkennen, was kleine Kinder im Kindergarten lernen: dass alles neue Leben entsteht, nachdem die Saat fast verdorben ist. Offenbar bleibt nach einer Zeit der Verwesung ein gesunder Wachstumskern übrig, der immer wieder neu beginnt. In Ägypten waren wir auf das unterste spirituelle Niveau hinabgestiegen. Genau dort hat uns G’tt wiederaufgerichtet und uns nach oben geführt.

wiederaufstehen Das geschah durch viel Fallen und Wiederaufstehen. Der Prophet Micha sagte (7,8): »Denn wenn ich gefallen bin, werde ich wieder aufstehen; wenn ich in der Finsternis sitze, ist G’tt ein Licht für mich.« Gerade aus der Finsternis geht das Licht hervor. Die Zerstörung des Tempels trägt den Samen des Wiederaufbaus in sich. Der Wiederaufbau des Tempels kündigt auch das Kommen des Maschiach an.

Die Mächte des Bösen und der Unreinheit spüren, dass die messianische Zeit nicht mehr so weit entfernt ist. Wenn der Tempel wiederaufgebaut ist, wird all das Böse auf der Erde allmählich verschwinden. Deshalb nehmen antijüdische Tendenzen in diesen Tagen so stark zu. Es sind die letzten verzweifelten Zuckungen satanischer Ausbrüche, kurz bevor sie endgültig vom Angesicht der Erde verschwinden und die schönste Endzeit anbricht, die wir uns wünschen können. Doch kurz bevor der Stern des Maschiach leuchten wird, werden wir unsagbares Elend erleben. Die Grausamkeit des Nationalsozialismus und des Holocaust haben wir bereits erlebt. Wie lange müssen wir noch warten?

Denken Sie nicht, dass die Trauerrituale der drei Wochen nur ein Ausdruck der Trauer sind. Es ist ein klares Programm unserer Weisen, die uns den Weg aus der spirituellen Finsternis zeigen wollen. Es gibt noch viel zu tun, um unseren Mangel an g’ttlicher Inspiration und unsere Spaltungen untereinander zu beheben. Die Erinnerung an den Ruhm des Heiligtums wird uns nicht weiterhelfen. Der zerstörte Tempel ist das Symbol für das Chaos, das wir aus unserer jüdischen Seele gemacht haben. Anstatt ein Volk der Einheit in G’ttes Einheit zu bilden, sind wir vor den Augen der Welt zum Inbegriff der Spaltung geworden.

Wir sind immer noch nicht zu einem »Licht für die Völker« geworden. Die Erosion unseres jüdischen Wissens und unser mangelnder Stolz auf die »schönste und reichste Tradition der Welt«, das Judentum, schreien nach einer tiefgehenden Selbstprüfung.

SENSIBILISIERUNG Unsere Weisen haben es geschafft, die Erinnerung an den Tempel lebendig zu halten und uns dennoch für den Verlust unseres spirituellen Zentrums, das Symbol für unsere »neschomme«, zu sensibilisieren. In Etappen haben unsere Weisen eine Art »Sensibilisierungstraining« verordnet. Allmählich muss die Erkenntnis dämmern, dass mit dem Tempel viel mehr als nur ein Gebäude verloren gegangen ist. Ab dem 17. Tamus sind alle Festivitäten verboten. Feste und Hochzeiten dürfen nicht gefeiert werden. Man darf sich nicht schneiden oder rasieren.

Die Trauerarbeit um das zerstörte Heiligtum ist ein Prozess, um das Trauma zu überwinden.

Ab dem ersten Aw (in diesem Jahr der 19. Juli) beginnt die zweite Trauerphase, in der wir kein Fleisch essen und keinen Wein trinken dürfen – außer am Schabbat. Die Kleidung darf nicht mehr gewaschen werden. Es ist verboten, sich zu waschen oder zu schwimmen. In der Woche, in die Tischa beAw fällt, gelten noch strengere Restriktionen. Der intensivste Ausdruck der Trauer ist jedoch Tischa beAw selbst vorbehalten; wie an Jom Kippur fastet man 25 Stunden am Stück. Wir tragen keine Lederschuhe, sitzen auf dem Boden und lesen intensiv die Klagelieder, um unseren gefallenen Zustand auszudrücken.

KONZENTRATION Es ist eine sorgfältig aufgebaute Trauererfahrung nach einem traumatischen Ereignis. Durch Phasen körperlicher Entbehrung und die Konzentration auf unseren Mangel an höherer Inspiration gipfelt unsere emotionale Lauheit in dem Gefühl, dass der Verlust des Tempels bis zum heutigen Tag real ist. Der Tempel war das Gebäude, in dem wir mit dem G’ttlichen in der Welt in Kontakt kommen konnten.

Wenn man nach dem Verlust eines geliebten Familienmitglieds trauert, verlaufen die Phasen der Trauer in umgekehrter Reihenfolge. Unmittelbar nach der Beerdigung sitzt man sieben Tage lang Schiwa. Da das Trauma in dieser Zeit am intensivsten empfunden wird, identifiziert man sich mit dem Verstorbenen, indem man die schwerste Trauerarbeit leistet: Die Familie sitzt am Boden, bleibt zu Hause und kümmert sich nicht. Später folgen leichtere Phasen der Trauer.

Die umgekehrte Reihenfolge der Trauer in den drei Wochen und ihr stufenweiser Aufbau zeigen, dass wir den Grund für die Zerstörung des Tempels kaum noch spüren. Das Heiligtum wurde nur wegen des grundlosen Hasses unter den Juden selbst zerstört. Daran hat sich nach 2000 Jahren Goles (Exil) kaum etwas geändert. Ein Grund mehr, diesem Umstand einen Tag des traurigen Nachdenkens zu widmen. Tischa beAw ist eine reinigende, therapeutische Erfahrung. Denn wir beklagen immer noch den Mangel an wahrer jüdischer Inspiration.

Der Autor war langjähriger Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und lebt nun in Israel.

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