Rosch Haschana

Ein Gebet als Schutz

An Rosch Haschana blasen wir das Schofar und sprechen den Segensspruch. Foto: Getty Images / istock

Es wird ein Jahr der Herausforderungen. In unserer Umgebung, in ganz Europa scheint der Nationalismus wieder die Oberhand zu gewinnen. Auch in Deutschland kann man den Eindruck gewinnen, dass sich dunkle Wolken über unseren Köpfen zusammenzuballen.

Doch trotz allem blicke ich optimistisch ins neue Jahr 5780. Trotz des wachsenden Antisemitismus verliere ich als europäischer Jude nicht meinen Mut. Denn wir stehen mit unserer jüdischen Tradition wie ein Fels in der Brandung. Und auch dieses Jahr werden wir wieder die Kraft finden, unser Judentum zu festigen.

Genau wie jedes Jahr gehen wir wieder in die Synagogen. Wir beten für Glück in unserem engeren Familienkreis, innerhalb unseres eigenen Volkes, im jüdischen Staat Israel, in der gesamten Welt, wir hoffen auf die Sympathie unserer Umwelt, auf Anerkennung und Akzeptanz, auf Erfolg in allen Bereichen.

Aber in der Tiefe unseres Herzens machen wir uns Sorgen über die Bedrohung, die uns aus unserem Umfeld entgegenschlägt. Wir haben Angst davor, dass der Antisemitismus seine hässliche Fratze wieder offen zeigt. Und leider ist das tatsächlich der Fall. Dennoch gibt es in unserer Tradition kein eindeutiges Gebet gegen Antisemitismus.

segensspruch Das ist eigenartig. Denn für fast jedes Phänomen gibt es eine Bracha (Segensspruch). Anlässlich jedes neuen Feiertages sprechen wir den Schehechejanu-Segen und danken G’tt dafür, dass wir auch dieses Jahr wieder Rosch Haschana, Jom Kippur und Sukkot, das Laubhüttenfest, feiern können und dürfen. Für jeden Happen Essen oder für jeden Schluck Trinken, für jeden Schritt im Leben, von der Geburt bis zum Tod, gibt es eine Bracha.

In den vergangenen Wochen habe ich mir selbst die Frage gestellt, ob es eine Bracha gegen Antisemitismus gibt, und falls nicht, wieso? Wir danken G’tt für etwas Schönes, das wir erleben. Aber Antisemitismus ist nicht schön. Wie könnte ich darüber einen Segensspruch sprechen? Ich quälte mich mit meinen Gedanken. Gibt es einen Segensspruch gegen etwas Unangenehmes, gegen Schwarzes und Negatives?

Es sollte ein Segen sein, in dem wir unsere Hoffnung aussprechen, dass G’tt dafür sorgt, dass der Antisemitismus wie der Schnee in der Sonne verschwindet. Oder dass G’tt uns die Kraft verleiht, allem Negativen in unserem Umfeld zu widerstehen und zu wachsen, gegen alle Unterdrückung. Gerade zum Anfang des neuen Jahres hätte ich mir in unserer Liturgie zu den Hohen Feiertagen eine solche Hoffnung bringende Bracha erhofft.

Meistens übersetzen wir unseren Segensspruch »Baruch Ata Haschem« mit »Gelobt oder gepriesen seiest Du, König der Welt«. Ich hatte mit der Wiedergabe dieses hebräischen Textes schon immer ein großes Problem. Ich vermisste den Inhalt, und er sprach mich nicht an.

Laut unserer Tradition empfindet G’tt es als angenehm, wenn seine Untertanen Ihn loben und an Ihn glauben, aber das sagte mir schon als Kind zu wenig. Ich empfand, dass G’tt nicht genügend im Mittelpunkt steht. Doch als ich 15 Jahre alt war, hörte ich eine Erklärung, die den Himmel für mich öffnete – als ob ein Lichtstrahl durch das dunkle Firmament brach.

Knie »Baruch« (»gesegnet«) und »Bracha« (»Segen) kommen vom hebräischen Wort »Berech« für »Knie«. Mit dem Knie können wir uns bücken, uns verbeugen und uns nach unten bewegen. »Baruch« bedeutet: G’tt lässt Sich selbst in diese materielle Welt und in meine Fantasie hinab, wenn ich Ihn in jedem Geschehen und Ereignis in meinem Leben erkenne.

An Rosch Haschana krönen wir G’tt zum König dieser Welt und rufen den Allerhöchsten zur verbindenden Macht des gesamten Universums aus. Als »gewöhnlicher« Jude könnte man den Eindruck bekommen, dass man den ganzen Tag nur mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt ist, aber letztendlich bin ich Teil eines viel größeren Ganzen mit einer überirdischen Sendung, die unserem nicht besonders spannenden Alltagsleben eine viel tiefere Bedeutung verleiht, als wir uns je hätten träumen lassen. Wir sind Teil eines Volkes, das sich seit den Zeiten unseres ersten Erzvaters Awraham zu messianischen Zeiten vorarbeitet, in denen die g’ttliche Anwesenheit für jeden Menschen in jedem Atom, in der gesamten Welt so deutlich wahrnehmbar sein wird wie in glasklarem Wasser.

Kabbala CENTER Als Semiten haben wir den Auftrag, das G’ttliche in der Welt zu verbreiten und bekannt zu machen. Sem war ein Sohn von Noah. Zehn Generationen nach ihm wurde Awraham geboren, der damit begann, den Monotheismus zu verbreiten. Sein Zweck heiligte viele Mittel. Mitten in der Wüste baute er eine Art von »Kabbala Center« auf. Kabbala bedeutet eigentlich den »Empfang der Tradition«, mit einer Politik der offenen Tür. Jeder war willkommen, um dort gratis zu essen, zu trinken und zu schlafen.

Wenn seine Gäste sich bei Awraham für die maßlose Gastfreundschaft bedankten, sagte er, sie sollten sich nicht bei ihm, sondern bei G’tt bedanken. Die Heiden kamen mit Awraham über den Monotheismus ins Gespräch und waren von seinen neuen Ideen tief beeindruckt.

Aber diese Aktivitäten stießen auf enormen Widerstand. Nicht jeder war davon angetan. Die Heiden und deren Priester sahen in Awraham die größte Bedrohung für ihre dem Götzendienst gewidmeten Handlungen. Die Götzendiener der damaligen Zeit beschwerten sich bei König Nimrod, der Awraham in einen Feuerofen werfen ließ. Nur wie durch ein Wunder wurde er gerettet. Letztendlich wanderte Awraham von Ur Kasdim nach Israel aus, dem Land, das ihm als Wohnort für seine Enkelkinder verheißen wurde.

Diesen Hintergrund des wundersamen Fortbestehens unseres Volkes im Hinterkopf, machte ich mich auf die Suche nach einem inspirierenden Gebet gegen Antisemitismus. Wie ich zu meinem großen Erstaunen feststellte, finden sich unsere Sorgen über die zunehmende Judenfeindschaft im Mittelpunkt aller Gebete von Rosch Haschana und Jom Kippur wieder – wir müssen nur die tiefer gehende Philosophie und die Hintergründe unserer Liturgie erkennen.

Erzväter Historisch ist es auch interessant, dass Awraham der Erste war, der unsere Gebete festlegte. Er formulierte das Morgengebet, sein Sohn Jizchak komponierte das Mittagsgebet, und sein Enkelsohn Jakow stellte das Abendgebet zusammen.

Anfangs dachte ich, dass hier drei sehr begabte Männer ihre eigenen Gedanken ausdrückten, aber ihre Inspiration kam von oben, und deshalb sind ihre Gebete noch immer unsere Gebete. Wenn wir in diese Welt etwas Dauerhaftes einbringen möchten, müssen wir uns mit der ewigen Quelle von allem verbinden. Nur dann haben auch unsere Gebete Ewigkeitswert.

Über meine Entdeckung werden Sie genauso staunen wie ich: In unserem Gebetbuch zu Rosch Haschana beginnt jedes Gebet mit einem Segensspruch gegen Antisemitismus. Zwar heißt es nicht: »G’tt rette uns vor den Antisemiten«, sondern es wird positiv formuliert: »Verleihe uns die Kraft, all diesen negativen Mächten zu entsteigen, und beschütze uns gegen alles Negative, das uns umgibt.«

Es gibt also doch eine Bracha! Sie lautet »Magen Awraham«, das Schild Awrahams. Viele von uns tragen einen Magen David, das Schild Davids, in Form eines sechseckigen Schmuckstücks an einer Kette. Aber wenn wir beten, beginnen wir beim Anfang der jüdischen Geschichte, beim ersten Juden – Awraham. Alle unsere im Mittelpunkt stehenden Gebete zu Rosch Haschana beginnen mit dem Satz: »Gepriesen seist Du, G’tt, Magen Awraham – das Schild Awrahams«.

Machen wir uns bewusst, dass dieser Mann wegen seiner revolutionären Ideen, die die gesamte gesellschaftliche Ordnung in ihren Grundsätzen erschütterte, angefeindet wurde. Er wurde von der Obrigkeit mit dem Tode bedroht. Er landete laut einer Legende sogar auf einem Scheiterhaufen, kannte aber kein Aufhören. Er stand zu seinen Idealen, schüttete kein Wasser in den Wein, redete niemandem nach dem Mund und nutzte jede Gelegenheit, seinen neuen Glauben zu predigen.

Er schämte sich nicht für sein Judentum, im Gegenteil. Dieser Kämpfer für das Gute und für das G’ttliche in der Welt hat letztendlich das Heidentum besiegt. Die Geschichte des Monotheismus hat dies bewiesen. Aber noch immer wird Awrahams Gedankenwelt in ihrem vollkommensten Ausdruck des Monotheismus, im Judentum, angegriffen – bis heute.

Das Judentum hat leider viele Feinde. Aber der große Beschützer des Guten und des Erhabenen steht hinter uns. Ab und zu gelingt es unseren Widersachern, uns einen Schlag zu versetzen, aber wir entkommen immer wieder aufs Neue den Gefahren, die uns umgeben, und gehen immer wieder als Sieger hervor.

Leitfaden Jeden Tag des neuen Jahres 5780 können wir aus G’ttes Einheit und dem Auftrag an unser Volk, der mit Awraham begann, enorme Kraft und positive, andauernde Energie schöpfen.

Mein Leitfaden für wehrfähiges Judentum lautet: Jeder sollte ab diesem Rosch-Haschana-Fest täglich zweimal, morgens und abends, die Worte »Schema Jisrael, HaSchem Elokenu, HaSchem Echad« sprechen und jeden Tag mindestens drei Mal – am Schabbat und Feiertagen vier Mal – die Worte: »Gepriesen seiest Du, unser G’tt und G’tt unserer Vorväter, der G’tt Awrahams, der G’tt von Jizchak und der G’tt von Jakow, der große, starke, Ehrfurcht auslösende, höchste G’tt, der liebevolle, helfende und unterstützende Güte bezeugt (...). Näher gekommen bist Du, ewiger G’tt, der das Schild von Awraham ist.«

Diese Kraft, die wir damit für das gesamte Jahr erlangen können, ist der dauerhafte und zielgerichtete Schutz gegen Antisemitismus.

Der Autor ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Dajan beim Europäischen Beit Din und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Korban Pessach

Schon dieses Jahr in Jerusalem?

Immer wieder versuchen Gruppen, das Pessachopfer auf dem Tempelberg darzubringen

von Rabbiner Dovid Gernetz  22.04.2024

Pessach

Kämpferinnen für die Freiheit

Welche Rolle spielten die Frauen beim Auszug aus Ägypten? Eine entscheidende, meint Raschi

von Hadassah Wendl  22.04.2024

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024