Tchelet

Die verschollene Mizwa

Am ersten Tag des Jom-Kippur-Krieges (6. Oktober 1973) wurde das 198. Panzerbataillon unter dem Kommando von Oberfeldwebel Gil Ofir von ägyptischen Panzern aus dem Hinterhalt angegriffen und sehr stark angeschlagen. 25 Soldaten überlebten den Angriff, sahen sich jedoch gezwungen, mitten im Schlachtfeld zu Fuß zu ihren Truppen zurückzufinden.

Nach einem kurzen Marsch entdeckten sie in der Ferne israelische Panzer und begannen, in ihre Richtung zu laufen. Doch die Israelis hielten sie für feindliche Soldaten und eröffneten das Feuer. Oberfeldwebel Gil Ofir musste sich und seine Männer rasch als israelische Soldaten zu erkennen geben. Er ergriff den Tallit (Gebetsschal) einer seiner Männer und hielt ihn gemeinsam mit seinem Kameraden Ilan Gidron in die Höhe. Die israelischen Streitkräfte erkannten den Tallit und beendeten den Beschuss sofort. Die schwarzen Streifen auf dem weißen Hintergrund hatten Ofir und seine Soldaten das Leben gerettet. Für seinen genialen und kreativen Einfall wurde Gil Ofir im Jahr 1975 mit dem »Itur Mofet«, einer Ehrung der israelischen Armee, ausgezeichnet.#

Bevor ich diese Geschichte hörte, wusste ich nur, dass die Zizit (Schaufäden) den Menschen vor Sünden beschützen (Talmudtraktat Menachot 44a), aber diese Geschichte hat mich gelehrt, dass Zizit auch Leben retten können.

KABBALA Entsprechend dem aschkenasischen Brauch haben Tallit und Zizit blaue oder schwarze Streifen auf dem Stoff (bei sefardischen Juden sind Tallit und Zizit heute nach der Kabbala schneeweiß) – als Erinnerung an den himmelblauen Tchelet-Faden, welcher zusätzlich zu den weißen Fäden an die Kleidung angebracht wurde, wie es heißt: »Sprich zu den Kindern Israel und ordne ihnen an, dass sie sich Schaufäden machen an die Ecken ihrer Kleider für alle Zeiten, und sie sollen an die Schaufäden der Ecken einen himmelblauen Faden ansetzen« (4. Buch Mose 15,38).

In der Tosefta (Menachot 9,6) steht, dass man die zusätzliche Mizwa von Tchelet nur dann erfüllt, wenn diese Farbe aus dem Blut des Chilason, eines bestimmten Meereslebewesens, extrahiert wird. Es gibt eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Tanaim (Gelehrte der Mischna-Epoche) darüber, ob die weißen und blauen Fäden unabhängig voneinander seien, und zu unserem Glück folgt die überwiegende Mehrheit der Rischonim (Gelehrte des Mittelalters) der Meinung, dass man der Mizwa auch mit ausschließlich weißen Fäden Genüge tut.

Denn schon seit rund 1300 Jahren sind wir nicht mehr in der Lage, die Mizwa von Tchelet zu erfüllen, weil wir weder wissen, um welches Meereslebewesen es sich beim Chilason handelt, noch wie genau diese Farbe aus diesem Chilason hergestellt wird.

Der genaue Zeitpunkt für diese Wissenslücke lässt sich nur schwer feststellen: Aus dem Talmud (Menachot 43a) geht hervor, dass Tchelet in jener Epoche noch gegenwärtig, jedoch schon zur Zeit der Gaonim verschwunden war, sodass dieser Wandel wahrscheinlich rund um das 7. Jahrhundert passiert sein musste.

Ein Chemiker half dem Radzyner Rebbe, Tintenschwarz in Tchelet zu verwandeln.

Auch hinsichtlich des Grundes für den Abbruch der Tradition gibt es unter den Historikern und Rabbinern verschiedene Thesen. Wenn man den Midrasch (Tanchuma, Schlach 15) wörtlich nimmt, dann scheint dieser anzudeuten, dass das Tchelet beziehungsweise der Chilason von G’tt bewusst versteckt wurde.

Aber die Kommentatoren (Rabbi Chanoch Zundel Ben Yosef, Ez Yosef) schlagen vor, dass damit gemeint sein könnte, die Farbe und das Meereswesen seien im Zuge der islamischen Expansion in Vergessenheit geraten. Mehr als ein Jahrtausend lang hat sich das jüdische Volk also damit abgefunden, dass es kein Tchelet gibt und die Mizwa von Zizit nur mit weißen Fäden erfüllt werden kann.

DYNASTIE Dies wäre auch heute noch so, wenn es nicht im 19. Jahrhundert eine schillernde Persönlichkeit gegeben hätte, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, das verschollene Tchelet zu finden und die Tradition wiederherzustellen – Rabbi Gerschon Chanoch Leiner (1839–1890), der »Radzyner Rebbe« (spirituelles Oberhaupt der Radzyn-Dynastie).

Rabbi Leiner war ein außergewöhnlicher Talmud-Gelehrter und sprach mehrere Sprachen fließend. Neben seiner Tätigkeit als Rebbe im Städtchen Radzyn beschäftige er sich mit Medizin, Chemie und Ingenieurwissenschaften, höchst ungewöhnlich für einen Rebben in Polen im 19. Jahrhundert.

Es ist nicht bekannt, was genau den Radzyner Rebben dazu veranlasste, zum Ende seines Lebens mit der Suche nach dem Ursprung des Tchelet zu beginnen. »Es gibt eine Verpflichtung für alle, die fähig sind, danach zu suchen, um Israel die Erfüllung dieses Gebotes, das in den letzten Jahrhunderten vergessen wurde, zu ermöglichen. Wem das gelingt, den wird G’tt gewiss segnen«, sagte Rabbi Leiner 1883.

Um die Lebewesen des Mittelmeeres genauer zu studieren, reiste der Rabbiner viermal nach Italien und besuchte auch das damals größte Aquarium der Welt in Neapel.

SEPIA Nach jahrelanger Forschung kam der Radzyner Rebbe zu dem Schluss, dass der Tintenfisch (Sepia 0fficinalis) am besten zur Beschreibung des Chilason passe, und mithilfe eines italienischen Chemikers gelang es ihm schließlich, die schwarze Tinte der Sepia in eine blaue Farbe zu verwandeln. Er begann sogleich mit der Massenproduktion, und innerhalb von nur zwei Jahren trugen mehr als 10.000 Radzyner Chassidim das »Radzyner Tchelet«. Die Ergebnisse seiner Forschung und Beweise für seine Überzeugung, dass der Tintenfisch der Chilason sei, fasste er in drei Werken zusammen, Sfunei Tmunei Chol, Ptil Tchelet und Ein HaTchelet.

Bevor wir sehen, wie die rabbinischen Zeitgenossen des Radzyner Rebben auf die Wiedereinführung des Tchelet reagiert haben, muss zunächst geklärt werden, ob es laut jüdischen Quellen den Chilason und das Tchelet in unserer Zeit überhaupt geben kann: Wie schon erwähnt, wurde laut einer Interpretation des Midrasch das Tchelet von G’tt versteckt. Auch Rabbiner Isaak Luria, der Arizal (Schaar HaKavanot Zizit 4), scheint diese Ansicht zu teilen und erklärt, dass das Tchelet nach der Zerstörung des Tempels (aus kabbalistischen Gründen) nicht mehr getragen werden kann und daher erst mit der Ankunft des Maschiachs zurückkehren wird.

Mehr als ein Jahrtausend fand sich das jüdische Volk mit weißen Schaufäden ab.

Entweder der Midrasch oder der Arizal veranlasste Rabbi Yechiel Michel Epstein (1829–1908), eine der größten halachischen Autoritäten des 19. Jahrhunderts, das »Radzyner Tchelet« mit diesem Argument abzulehnen: »Wisse, dass vor einigen Jahren jemand damit prahlte, den Chilason gefunden und Tchelet daraus hergestellt zu haben (…). Aber von den Gelehrten seiner Generation und vom jüdischen Volk wurde es nicht anerkannt, denn Tchelet wurde annulliert, bis der Erlöser kommt« (Aruch HaSchulchan, 9,12).

Doch in den Schriften der Rischonim ist nirgends zu finden, dass es nicht möglich sein wird, den Chilason bis zum Wiederaufbau des Tempels zu identifizieren, und aus dem Wortlaut des Rambam (Hilchot Zizit, 2,9) geht ebenso das genaue Gegenteil hervor: dass das Tchelet gefunden werden könne. Der Radvaz (Rabbi David Ben Zimra, 1479–1573) schreibt explizit, dass Tchelet eventuell auch heutzutage vorhanden sei, nur fehlten uns die nötigen Mittel, es zu finden (Band 2, Siman 685).

Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich der Radzyner Rebbe auf die Suche nach dem Chilason begab und wirklich glaubte, ihn ausfindig gemacht zu haben. Auch in den zahlreichen Dialogen zwischen dem Radzyner Rebben und seinen Zeitgenossen wird dieses Argument nicht verwendet (mit Ausnahme des Aruch HaSchulchan). Obwohl das Radzyner Tchelet von der Mehrheit der damaligen Gelehrten nicht anerkannt wurde, gab es einen bedeutenden Rabbiner, der es akzeptierte – Rabbi Schalom Mordechai Schwadron (1835–1911), der »Gaon von Berezin«. Der Legende nach bat er sogar in seinem Testament darum, in einem Tallit mit Radzyner Tchelet begraben zu werden.

LABOR Zwei Jahrzehnte nach dem Tod des Radzyner Rebben befasste sich Rabbi Yizchak Herzog (1889–1959, zunächst Oberrabbiner von Irland und schließlich aschkenasischer Oberrabbiner von Israel) mit dem Radzyner Tchelet und ließ es im Labor untersuchen. Im Jahr 1913 verfasste er dazu seine Doktorarbeit unter dem Titel The Royal Purple and the Biblical Blue und widerlegt darin ausführlich die These, dass der Tintenfisch der Chilason sei.

Rabbi Herzog beweist, dass die himmelblaue Farbe des Radzyner Tchelet nichts weiter als das Resultat einer chemischen Reaktion zwischen Eisen-(II-)Sulfat und dem organischen Material des Tintenfisches sei und man mit Ochsenblut dasselbe Ergebnis erhalten würde. Er fügt hinzu: Hätte Rabbi Leiner über diese Erkenntnis verfügt, wäre er sicherlich damit einverstanden gewesen, dass es sich bei dem Tintenfisch nicht um den Chilason handeln könne.

Die Stachelschnecke produziert laut Rabbiner Yizchak Herzog das himmlische Blau.

Laut Rabbi Yizchak Herzog passt die Stachelschnecke (Hexaplex trunculus) am besten zur Beschreibung des Chilason, jedoch ist die Farbe, die die Schnecke produziert, oft violett anstatt blau. 70 Jahre nach der Veröffentlichung von The Royal Purple and the Biblical Blue gelang es Otto Elsner, einem Studenten der Shenkar-Universität in Ramat Gan, blaue Farbe aus dem Hexaplex trunculus zu extrahieren, indem er die Schneckenart mit UV-Licht belichtete.

Mit dieser Erkenntnis produzierte Rabbi Eliyahu Tavger im Jahr 1988 die ersten Zizit mit Hexaplex-trunculus-Tchelet. 1991 wurde »Ptil Tchelet« gegründet, eine Organisation in Maale Adumim, die Zizit und Tallit mit Tchelet für die Öffentlichkeit bereitstellt. Laut ihrer Website hat sie seit ihrer Gründung mehr als 270.000 Tchelet-Sets produziert. Ohne Zweifel wurde das »neue« Tchelet von mehr Menschen angenommen als das Radzyner Tchelet. Dennoch scheint die Mehrheit des jüdischen Volkes nicht vollkommen überzeugt davon zu sein. So wie es aussieht, werden wir dafür bis zur Ankunft des Maschiachs warten müssen, so wie es der Arizal vor knapp 500 Jahren vorhergesagt hatte.

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