Talmudisches

Die Verdienste eines Kerkermeisters

Von der Wirksamkeit des Gebets

von Yizhak Ahren  15.11.2019 09:28 Uhr

Kerkermeister: Jemand, der eine sehr wichtige Aufgabe zu erfüllen hat, sollte sich nicht von anderen ablenken lassen. Foto: Getty Images/ iStockphoto

Von der Wirksamkeit des Gebets

von Yizhak Ahren  15.11.2019 09:28 Uhr

In der talmudischen Zeit war der Prophet Elijahu bei Begegnungen mit Gelehrten gerne bereit, eine Frage, die sein Gesprächspartner aufwarf, sofort zu beantworten. So ging er auch auf die folgende Frage ein, die ihm Rabbi Broka aus dem Ort Bet Chosai auf dem Markt in Bet Lapat stellte: »Gibt es auf diesem Marktplatz eine Person, die die zukünftige Welt sicher betreten wird?« Elijahu blickte sich um und erwiderte: »Nein« (Ta’anit 22a).

Doch da bemerkte er einen Mann, der schwarze Schuhe trug und keine Zizit an seinem Gewande hatte, und sagte: »Dieser Mann ist ein Kind der zukünftigen Welt!«

Schwarze Schuhe Man fragt sich, was es mit den schwarzen Schuhen auf sich hat. Raschi (1040–1105) erklärt, dass Juden damals keine schwarzen Schuhe trugen.

Der Mann, von dem Elijahu behauptete, er werde in die zukünftige Welt gelangen, ist also vermutlich ein Nichtjude. Zu dieser Vermutung passt die Tatsache, dass an seinem Gewand keine Schaufäden zu sehen waren. Dass die naheliegende Annahme falsch ist, wird sich erst am Ende der Geschichte herausstellen.

Wie reagierte Rabbi Broka auf Elijahus unmissverständliche Aussage? Er lief dem Mann mit den schwarzen Schuhen hinterher und wollte von ihm wissen, welcher Arbeit er nachgeht. Doch der Mann erwiderte: »Geh jetzt und komme morgen!«

Warum schlägt der Mann einen anderen Termin für das Gespräch vor?

Am nächsten Tag kam es zu einem zweiten Treffen, und Rabbi Broka wiederholte seine Frage: »Was ist deine Beschäftigung?«

Der Mann erwiderte: »Ich bin ein Kerkermeister und sperre Männer auf der einen Seite ein, Frauen hingegen auf der anderen Seite. Mein Bett schlage ich zwischen diesen und jenen auf, damit es nicht zu einer Sünde kommt. Wenn ich erkenne, dass ein Nichtjude seine Augen auf eine israelitische Gefangene geworfen hat, setze ich mein Leben ein und rette die Frau. Eines Tages war ein verlobtes Mädchen bei uns, und Nichtjuden richteten ihre Augen auf sie; da begoss ich ihr Kleid mit roter Weinhefe und sagte zu ihnen, sie sei eine Menstruierende.«

Nun wissen sowohl Rabbi Broka als auch die Leser der talmudischen Erzählung, wodurch der Kerkermeister seinen Anteil an der zukünftigen Welt verdient hat: Er setzt sich im Gefängnis für Sittsamkeit ein und wusste ein geplantes Sexualdelikt zu verhindern.

In der bisher erzählten Geschichte sind einige Punkte dunkel geblieben. Aufklärung finden wir in der Fortsetzung des Dialogs. Rabbi Broka fragte: »Weshalb trägst du keine Zizit, und warum hast du schwarze Schuhe?«

Der Kerkermeister erwiderte: »Ich gehe bei Nichtjuden ein und aus. Sie sollen nicht merken, dass ich Jude bin. Wenn sie (über uns) ein Verhängnis beschließen, teile ich dies den Rabbinen mit, damit die frommen Männer um Erbarmen flehen und das Verhängnis abwenden.«

Gebet Wir erkennen, der Informant war von der Wirksamkeit des Gebetes überzeugt.

Welchen Merksatz können wir aus den Worten des wackeren Mannes ableiten, der nach Elijahus Auskunft ein Kind der zukünftigen Welt war? Dass man unter gewissen Umständen sein Judesein nicht hervorkehren muss. Der Gefängniswärter konnte seinen Glaubensgenossen gerade deshalb einen lebenswichtigen Dienst erweisen, weil er bereit war, schwarze Schuhe anzuziehen, die seine Religionszugehörigkeit verdeckten.

Zum Schluss stellte Rabbi Broka dem Mann eine weitere Frage: »Weshalb sagtest du gestern zu mir: Geh jetzt und komme morgen?«

Der Kerkermeister erwiderte: »Gerade in jener Stunde war ein Verhängnis beschlossen worden, und ich musste sofort losgehen, um die Rabbanan zu informieren, damit sie um Erbarmen flehen.«

Aus dieser Erklärung ist folgende Regel abzuleiten: Jemand, der eine sehr wichtige Aufgabe zu erfüllen hat, sollte sich nicht von anderen ablenken lassen. Doch bei aller Entschiedenheit bleibe man dennoch verbindlich.

Wajikra

Zeichen der Zuwendung

So wie sich die Engel gegenseitig rufen, wird Mosche vom Ewigen gerufen

von Rabbinerin Gesa Ederberg  24.03.2023

Talmudisches

Urteile, die zum Himmel schreien

Was unsere Weisen über die Gerichtsbarkeit in der Stadt Sodom lehrten

von Yizhak Ahren  24.03.2023

Interview

»Unser Einfluss wird größer«

Ilana Epstein über die Rolle der Rebbetzin, Veränderungen und ein Treffen in Wien

von Imanuel Marcus  23.03.2023

Debatte

Für die Freiheit des Glaubens

Moskaus früherer Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt sprach in Berlin über die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine für das jüdische Leben in Europa

von Gernot Wolfram  23.03.2023

Konferenz

Rat für Ratgeberinnen

Rebbetzins aus ganz Europa tauschten sich in Wien über ihre Herausforderungen im Alltag aus

von Stefan Schocher  23.03.2023

Technologie

Beten mit Handy

Warum spezielle Apps viel mehr sein können als Siddurim auf dem Smartphone

von Chajm Guski  21.03.2023

Kleidung

Wann ist ein Jude religiös?

Äußerlichkeiten können in die Irre führen – auch die Befolgung der zwischenmenschlichen Gesetze ist von zentraler Bedeutung

von Daniel Neumann  17.03.2023

Talmudisches

Korpulente Rabbiner

Was unsere Weisen über Leibesfülle und körperliche Gesundheit lehrten

von Vyacheslav Dobrovych  17.03.2023

Wajakhel–Pekude

Herausforderungen angehen

Die Tora lehrt: Der Mensch muss den ersten Schritt tun, dann wird G’tt ihm helfen

von Shlomo Rottman  17.03.2023