Purim

Die Erzfeinde

Gemälde von Jan Brueghel dem Älteren: »Schlacht der Israeliten gegen die Amalekiter«, um 1602 Foto: dpa

»Denke daran, was Amalek dir tat auf dem Wege, als ihr aus Ägypten zogt: wie er dich unterwegs angriff und deine Nachzügler erschlug, alle die Schwachen, die hinter dir zurückgeblieben waren, als du müde und matt warst, und wie sie Gott nicht fürchteten. Du sollst die Erinnerung an Amalek austilgen unter dem Himmel. Das vergiss nicht!« So steht es im 5. Buch Mose 25, 17–19. Jedes Jahr am Schabbat vor Purim lesen wir diese Passage als Zusatz zur Parascha – eine Aufforderung, uns an dieses Gebot der Tora zu erinnern.

Doch diese »Mizwat Aseh« sollte uns Unbehagen bereiten. Solange wir uns mit Geboten beschäftigen, die mit Freuden und Spenden, der Verbesserung von Beziehungen zwischen uns und der Gesellschaft oder den Beziehungen zwischen uns und dem Ewigen verbunden sind, empfinden wir hohe geistige Genugtuung bei der Erfüllung des Gebots.

Hier aber geht es um ein Gebot, das von uns etwas verlangt, was uns nicht leicht fällt. Seit Tausenden von Jahren wird uns geboten, des Krieges zu gedenken, der plötzlich nach dem Auszug aus Ägypten über uns hereinbrach. Es soll sogar unser Bestreben sein, dass das Volk, das uns bekämpfte, von der Bühne der Geschichte verschwindet, also ausgerottet wird.

Rückkehr Dieses Gebot gehört übrigens zu den drei Mizwot, deren Erfüllung dem israelitischen Volk bei der Rückkehr ins Land Israel aufgetragen wurde. Dem Volk Israel wurde geboten, einen König oder Führer zu wählen, um im Land ein jüdisches Königreich zu gründen, das Volk Amalek auszurotten und danach eine spirituelle Stätte für den Ewigen im Land Israel einzurichten: den Tempel.

Uns wird geboten, die Freveltaten Amaleks nicht zu vergessen. Beim Auszug aus Ägypten haben die Amalekiter kurz entschlossen gegen uns Krieg geführt. Aus welchem Grund? Aus keinem Grund! Bei ihrem Auszug näherten sich die Israeliten nicht dem amalekitischen Volk, und wir versuchten nicht, Amaleks Land zu durchqueren. Er beschloss, sich aus der Ferne zu nähern und uns anzugreifen. Wir waren sehr müde und erschöpft. Doch Amalek hatte keine Moral und keine Gottesfurcht.

Wer ist dieser Amalek, und was hat er mit Purim zu tun? Um das zu verstehen, müssen wir einen Blick zurück werfen. Seit mehr als 3500 Jahren steht Israel im Zentrum der Weltgeschichte. Im Verlauf jener Zeit hat das Volk Höhen und Tiefen erlebt, verbrachte Zeiten im Exil und andere Zeiten, in denen es sein Land – Israel – besiedelte. Es machte Epochen durch, in denen es unterjocht war von anderen Völkern innerhalb oder außerhalb Israels. Und es gab wiederum Epochen, in denen das jüdische Volk gute Beziehungen zu den Herrschern im Lande unterhielt.

Achaschwerosch
Im fünften Jahrhundert vor der Zeitrechnung – nach der Zerstörung des Ersten und vor der Errichtung des Zweiten Tempels – befand sich das jüdische Volk im Exil. Achaschwerosch (Ahasuerus), König von Persien und 127 weiteren Ländern, behandelte die Juden mit großer Ehrerbietung.

Selbst zu einem großen Ess- und Trinkgelage für das ganze Volk wurden alle Juden eingeladen und durften an der Freude teilnehmen. Sie galten als anständiges, diszipliniertes Volk, das einem geregelten Leben im persischen Großkönigreich nachging. Es war loyal zum König, zahlte Steuern, identifizierte sich mit den Herausforderungen des Königreichs und nahm auch an freudigen Anlässen seiner Herrscher teil. Wo also war das Problem?

Haman, der Berater des Königs Achaschwerosch, zeichnete dem Monarchen ein ganz anderes Bild des jüdischen Volkes: Es sei versprengt unter den Völkern und in alle Landschaften des Königreichs zerstreut. Ihre Gesetze unterschieden sich von denen jedes anderen Volkes. »Aber (nach) den Gesetzen des Königs tun sie nicht, und dem König bringt es nichts ein, wenn er sie lässt« (Esther 3,8). Das jüdische Volk wurde Achaschwerosch und dem Leser der Megilla auf eine Weise präsentiert, die zum Hass auf ein Volk führt, das unter anderen Völkern lebt und dennoch angeblich keinen Anteil an der Allgemeinheit nimmt.

Tradition Haman ist ein Nachkomme Amaleks und gilt als jemand, der dessen Weg fortführte. In seinen Erläuterungen zur Tora erklärt Nachmanides die Schwere der Freveltaten Amaleks: Die Welt hatte im Allgemeinen nach dem Auszug aus Ägypten eine positive Einstellung zu den Israeliten.

Alle anderen Völker hörten davon und waren beeindruckt von der Tatsache, dass sich ein gesamtes Volk vom Joch des ägyptischen Imperiums befreien und ein eigenes Gemeinwesen mit beispielhaft moralischen Regeln aufzubauen begann. Das Volk Israel befand sich auf dem Weg zurück in sein Land, um eine unabhängige Monarchie zu gründen. Die Wunder, die ihm widerfuhren, waren auf der ganzen Welt berühmt. Die Zehn Plagen und die Teilung des Schilfmeeres brachten sowohl ihnen als Königreich als auch dem Ewigen wahre Ehrfurcht und viel Anerkennung ein.

Wunder Was führte dazu, dass Amalek trotz dieser Anerkennung das Volk Israel bekämpfen wollte? Amalek kam nicht nur, um das israelitische Volk zu bekämpfen. Er kam, um gegen die Erfolge des Ewigen zu kämpfen. Die ganze Welt sah und erlebte das Wunder, wie das israelitische Volk auf unnatürliche und unwahrscheinliche Weise aus der Sklaverei in die Freiheit zog. Jeder verstand, dass nicht nur Mosche, also ein menschlicher Führer allein, dahintersteckte und solches vollbracht hat.

Hier war offensichtlich, dass sich der Schöpfer der Welt in die Geschichte einmischte. Diese Tatsache konnte Amalek nicht akzeptieren. Amalek wollte das jüdische Volk bekämpfen, um der ganzen Welt zu beweisen, dass es sich bei all diesen Ereignissen nur um Zufälle handelte, und dass es keine g’ttliche Entität gibt, die allen Erlösung bringen kann. Beim Angriff auf die Israeliten führte Amalek Krieg gegen den Ewigen.

Die Tora beschreibt Amaleks Krieg in den schärfsten Worten. »Denn die Hand an dem Throne Jah’s, Krieg des Ewigen wider Amalek von Geschlecht zu Geschlecht!« Amalek suchte den Kampf gegen den Thron des Schöpfers. Die Tora kündigt hier an, dass das Königreich des Allmächtigen nicht vollständig auf der Welt in Erscheinung treten kann, solange die Amalekiter nicht von der Erde vertilgt sind. Mit seinen Freveltaten stört Amalek auf permanente Weise den Ablauf des Guten in der Welt.

Verwandtschaft Wenn wir Amaleks Hintergrund nachgehen, finden wir übrigens heraus, dass er mit uns verwandt ist. Amalek ist niemand anderes als der Enkel von Esau. »Und Timnah war Kebsweib bei Elifas, Sohn Esavs, und gebar dem Elifas den Amalek« (1. Buch Mose 36,12). Aus diesem Grund fragt sich Nachmanides umso mehr, was Amalek im Streit gegen uns erreichen will.

Haman, ebenfalls ein Nachfolger von Amalek, versuchte aus demselben Grund, das jüdische Volk auszutilgen. Denn als Haman sah, dass Mordechai der Einzige war, der nicht vor ihm niederkniete, sich nicht vor ihm verbeugt, wurde er zornig. Doch Mordechai verbeugte sich nicht, weil ein Niederknien vor einem Menschen dem jüdischen Glauben widerspricht. Haman interpretierte dieses Verhalten als g’ttliche Einmischung ins Weltgeschehen und entschloss sich zur Kampfansage an das jüdische Volk.

Judenhass Was Amalek und Haman verbindet – das spezifisch »Amalekitische«, das sich uns mit Ausdauer in der jüdischen Geschichte zeigt –, ist der Versuch, Hass gegen das jüdische Volk zu schüren, einzig und allein wegen seines Judentums.

Doch gibt es auch heute noch Amalekiter? Nein. Laut der jüdischen Tradition hat der Assyrerkönig Sennacherib – so beschrieben in Bibel und Gemara – zur Zeit des Königs Hiskia Völker und Stämme umgesiedelt. Es gibt also kein konkretes Volk, auf das wir zeigen und sagen können: Das sind die Amalekiter. Dennoch besteht das Gebot, sich an die Freveltaten Amaleks zu erinnern, nicht ohne Grund.

Politik Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik (geboren 1903 in Weißrussland, gestorben 1993 in Boston), eine der großen Führungspersönlichkeiten des amerikanischen Judentums und jüdischer Philosoph, hat es in Abschnitte aus den Überlegungen des Rabbiners so formuliert: Jede Nation, die proklamiert, dass ihre Politik aus der Vertilgung des jüdischen Volks bestehe, sei Amalek.

Aus diesem Grund gehöre die Auslöschung Amalek zu den »Mizwot Aseh«, den Geboten aus der Tora. In der modernen Welt, so Rabbiner Soloveitchik, gebe es keinen Zweifel daran, dass Hitler und Stalin »loyale körperliche Erscheinungen« Amaleks seien.

»Amalekitisches Verhalten« kennzeichnet heute leider zahlreiche Gruppen der Gesellschaft weltweit. Uns obliegt die Pflicht, dessen zu gedenken. Und dabei dürfen wir nicht vergessen, grundloses, von Judenhass und Feindseligkeit gegen den Staat Israel geprägtes Verhalten, das ganz einfach gegen unser Jüdischsein gerichtet ist, zu verurteilen. Dagegen müssen wir unsere Stimme erheben: »Gedenket dessen und vergesst nicht!«

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