Yair Zakovitch

»Der Tanach gehört uns allen«

Der Jerusalemer Forscher über seine literaturwissenschaftliche Methode und die Hebräische Bibel als Grundlage der jüdischen Kultur

von Ayala Goldmann  06.03.2021 18:56 Uhr

»Es ist egal, wer oder was ich bin«: Yair Zakovitch (76) Foto: privat

Der Jerusalemer Forscher über seine literaturwissenschaftliche Methode und die Hebräische Bibel als Grundlage der jüdischen Kultur

von Ayala Goldmann  06.03.2021 18:56 Uhr

Herr Zakovitch, Sie erhalten als »einer der originellsten Bibelwissenschaftler in Israel und weltweit« im April den Israel-Preis. So hat die Jury die Auszeichnung für Ihre literaturwissenschaftliche Methode begründet. Wie funktioniert sie?
Wie Shakespeare und Goethe ist auch der Tanach ein literarisches Werk. Daher ist die literaturwissenschaftliche Herangehensweise meiner Meinung nach die beste und die korrekteste Methode.

Ist es ein säkularer Ansatz, literarische Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Büchern des Tanach – der Hebräischen Bibel – aufzuzeigen?
Nicht per se. Auch religiöse Menschen, wie viele meiner ehemaligen Professorenkollegen an der Hebräischen Universität, unter ihnen sogar Rabbiner, nähern sich dem Tanach auf wissenschaftliche Art und Weise. Ich sehe da keinen Widerspruch: Ein Forscher kann jede Mizwa einhalten, die er möchte. Aber in dem Moment, in dem er sich auf akademischem Weg mit einem Thema auseinandersetzt, nutzt er wissenschaftliche Methoden. Die Wahrheit wird dann sogar eine religiöse Pflicht. Man nähert sich dem Tanach nicht mit einer vorgefassten Meinung darüber, was Gott gesagt oder David geschrieben hat, sondern man geht objektiv vor und hört mit offenen Ohren zu, was der Tanach sagen kann.

Haben Sie auch charedische Studenten?
Ich habe religiöse und säkulare Studenten, aber keine Charedim. Die Ultraorthodoxen, besonders in diesen Tagen, leben hier praktisch in einem eigenen Staat. Sie würden kein einziges Wort akzeptieren, das von mir kommt.

Bemerken Sie einen Unterschied zwischen religiösen und säkularen Dozenten in Ihrem Fach?
Nein. Heute tragen die meisten Tanach-Dozenten an der Hebräischen Universität Kippa. Aber sie unterrichten nichts anderes als die Säkularen.

Sind Sie selbst säkular oder religiös?
Ich mag es nicht, mich selbst oder andere Menschen mit einem Label zu belegen. Außerdem ist das überhaupt nicht wichtig. Ich rede schließlich nicht über mich selbst, sondern ich will der Stimme des Tanach zuhören. Es ist also egal, wer oder was ich bin.

In Ihrem Buch über das Hohelied, das auch auf Deutsch erschienen ist, setzen Sie sich mit zwei Interpretationen auseinander. Laut der ersten ist das Hohelied erotische Poesie. Die zweite sieht darin eine Allegorie der Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel. Was denken Sie?
Diese Lyrik ist in erster Linie erotische Poesie. Aber schon bevor die Gedichte als Anthologie im Hohelied zusammengefasst wurden, waren sie im Volk allgemein sehr bekannt. Schon die Propheten Israels nutzen diese erotische Poesie, um sie allegorisch auszulegen und das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk zu charakterisieren. Bereits in früher Zeit gab es also diese zwei parallelen Strömungen in der Interpretation dieser Texte. Außerdem: Viele dieser Gedichte sind in Form von Rätseln verfasst. Man liest sie einmal und meint, man hätte sie verstanden. Wenn man sie aber zum zweiten Mal liest, sieht man, dass es möglich ist, die Worte auch ganz anders aufzufassen. Die Verse wirken einerseits sehr konservativ und in anderer Hinsicht sehr erotisch.

Können Sie ein Beispiel geben?
Ja, Hohelied 2, Vers 15: »Fanget uns die Füchse, die kleinen Füchse, die die Weinberge verderben; denn unsere Weinberge haben Blüten gewonnen.« Wer hier spricht, sind die Frauen – wobei die Füchse ein Symbol für junge Männer sind. »Fanget sie« soll heißen: »Damit sie uns nicht schaden.« »Weil sie Weinberge verderben«: Damit ist ein bestimmter Teil des weiblichen Körpers gemeint. Das ist die konservative Auslegung. Die andere Auslegung ist, dass die Frauen die Füchse bitten, sich fangen zu lassen. Dann bedeutet »verderben« auch »schwängern«, weil die Weinberge wegen der Blüte gut riechen – also ein Aufruf der Frauen an die Füchse, sie zu schwängern.
Die Propheten, sagen Sie, haben Zitate aus dem Hohelied interpretiert. Welche gegenseitigen Beeinflussungen sehen Sie noch im Tanach?
Heute spricht man viel über Intertextualität. Das ist ein Begriff aus dem 20. Jahrhundert, aber der gesamte Tanach basiert darauf. Ein Text spricht sozusagen mit dem anderen, legt ihn aus, gibt ihm eine neue Richtung. Das ist literarische Arbeit ersten Ranges.

Welches Buch der Bibel mögen Sie am liebsten?
Das ist schwer zu sagen, denn jedes Mal, wenn ich an einem Buch arbeite, wird es mein Lieblingsbuch – wie etwa die Megillat Ruth oder das Hohelied. Jetzt schreibe ich ein Buch über die Psalmen, die ich sehr mag.

Was stellen Sie dabei ins Zentrum Ihrer Forschung?
Die Psalmen sind Lyrik. Ich interpretiere die verschiedenen Verse als Gedichte. Außerdem interpretiere ich die Meinungen und den Glauben, den die Texte widerspiegeln. Form und Inhalt gehören zusammen. Meine literaturwissenschaftliche Methode knüpft an die Schule des »New Criticism« an – man liest sehr aufmerksam, widmet sich jedem Wort, jedem Ausdruck, jedem Vers. Und nachdem man die Form analysiert hat, begreift man die Bedeutung, die Idee. Jeder Psalm unterscheidet sich von allen anderen. Es gibt 150 Psalmen, und es sind 150 verschiedene Welten.

Wie hat der Tanach die moderne israelische Lyrik beeinflusst?
Man kann hebräische Lyrik nicht begreifen, ohne den Tanach zu kennen. Hebräische Dichter aller Generationen – auch in unserer Generation – nutzen viele Assoziationen und viele Ausdrücke, die aus der Hebräischen Bibel stammen. Vor zehn Jahren habe ich einmal einen Versuch gemacht, habe alle in einem bestimmten Jahr veröffentlichten Lyrikbände genommen und in jedem von ihnen zahlreiche biblische Assoziationen gefunden. Die moderne israelische Literatur ist immer noch sehr stark mit dem Tanach verbunden.

Sie haben das »Revivim«-Programm für israelische Schüler entwickelt und herausragende Studenten der Bibelwissenschaft in die Klassenzimmer geschickt. Wie kam es dazu?
Ich war früher Leiter der Abteilung für Jüdische Studien an der Hebräischen Universität Jerusalem und später Dekan der Fakultät. Wir haben dieses Programm gegründet, weil wir den Eindruck hatten, dass die Tanach-Kenntnisse der Schüler nicht gut sind und sie sich nicht dafür interessieren. In meiner Generation war das anders, damals war der Tanach sehr beliebt, weil er mit dem Zionismus identifiziert wurde, mit dem Land der Bibel. Wir sind zu den Propheten zurückgekehrt, zum versprochenen Land, wir haben die Erde bearbeitet. Aber in der heutigen Generation ist der Tanach nicht mehr selbstverständlich. Und deshalb haben wir besonders motivierte Bibelstudenten zu Lehrern für Tanach und andere jüdische Fächer ausgebildet. »Revivim« war sehr erfolgreich – heute bilden wir Lehrer aus, die schon in der Schule mit diesem Programm unterrichtet wurden!

Warum ist das Interesse am Tanach schwächer geworden?
Ein Grund ist, dass der Zionismus nicht mehr das ist, was er einmal war. Für meine Generation war der Staat Israel ein Wunder, die junge Generation nimmt ihn als selbstverständlich hin. Auch die Spannungen zwischen Säkularen und extrem Religiösen haben zugenommen. Damit meine ich vor allem die Charedim und die »Hügeljugend« – junge Menschen, die einer messianischen Strömung im Judentum anhängen und jeden Quadratmeter von Eretz Israel heiligen. Und wenn die Siedler behaupten, sie hätten ein Monopol auf den Tanach, dann sagen die säkularen Juden in – wie ich betone – ihrer Torheit: »Okay, der Tanach gehört euch, wir halten uns da raus.« Das ist ein großer Fehler, denn der Tanach gehört uns allen, und auch die Säkularen können und müssen darin die Grundlage unserer Kultur wiederfinden. Die gesamte jüdische Kultur beruht auf dem Tanach. Jede Generation hat etwas hinzugefügt und neu ausgelegt, aber jede Generation kehrt auch wieder neu zum Tanach zurück. Leider nimmt das Interesse an den Geisteswissenschaften allgemein ab. Die jungen Leute wollen Berufe lernen, die ihnen Geld bringen.

Das Bibelquiz war in Israel immer sehr populär …
Nein, es war nicht populär. Vielleicht war es das in der 50er-Jahren. Heute heißt es »Bibelquiz für die jüdische Jugend«, das ist ein weltweites Rätsel, und in Israel nehmen vor allem Religiöse daran teil, nicht die Säkularen.

Gefällt Ihnen das Quiz?
Nein. Da wird vor allem Wissen abgefragt. Bei diesen Rätseln geht es darum, dass man sich gemerkt hat, wer wann etwas gesagt hat, aber nicht um die Bedeutung und das Verständnis. Ich finde: Das Wichtigste ist es, den Tanach richtig zu lesen.

Glauben Sie, dass auf Dauer das Interesse junger Israelis wieder wachsen wird?
Wir haben gewisse Erfolge, aber das ist eine Revolution, die Zeit braucht. Wir brauchen Geduld. Auch in Tel Aviv gibt es ein Programm, das »Revivim« ähnelt. Die Dinge werden sich ändern. Ich bin optimistisch.

Mit dem emeritierten Professor für Bibelwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem sprach Ayala Goldmann.

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