Talmudisches

Der missratene Sohn

Man soll die Vorschriften über den unbändigen und widerspenstigen Sohn sorgfältig studieren, um daraus eine Erkenntnis zu gewinnen. Foto: Getty Images / istock

Eine der 613 Mizwot der Tora betrifft den merkwürdigen Fall des missratenen Sohnes: »Wenn ein Mann einen Sohn hat, der ungehorsam und widerspenstig ist, nicht auf die Stimme seines Vaters und auf die Stimme seiner Mutter hört; sie züchtigen ihn, und er gehorcht ihnen dennoch nicht – so ergreifen ihn sein Vater und seine Mutter und führen ihn hinaus zu den Ältesten seiner Stadt und zum Tor seines Ortes, und sagen zu den Ältesten seiner Stadt: Dieser unser Sohn ist ungehorsam und widerspenstig ... er ist ein Schlemmer und ein Säufer. Und es steinigen ihn alle Leute seiner Stadt, dass er sterbe, und du schaffest das Böse weg aus deiner Mitte« (5. Buch Mose 21, 18–21).

Mischna Es drängt sich uns die Frage auf, ob ein junger Schlemmer und Säufer die Todesstrafe verdient. Dieses Problem hat schon die Mischna behandelt: »Der missratene und widerspenstige Sohn wird nur wegen seines Endes gerichtet; mag er lieber unbelastet sterben als (mit Sünden) belastet« (Sanhedrin 8,5). Anders gesagt: Für die von ihm begangenen Untaten verdient der Sohn die Steinigung sicher nicht.

Der Tora scheint klar zu sein, wie dieser ungehorsame Sohn sich möglicherweise entwickelt: Um seinen aufwendigen Lebensstil beizubehalten, könnte es passieren, dass er später Menschen ausraubt und umbringt. Daher, so meinen etliche, die die Tora auslegen, sei es früheren Generationen im alten Israel wohl angemessen erschienen, wenn der junge Schlemmer und Säufer hingerichtet wird, bevor er die Sünde des Mordes begeht.

Baraita Bemerkenswert ist eine Feststellung, die in einer Baraita steht: »Der Fall des missratenen Sohns ist nie geschehen und wird nie geschehen« (Sanhedrin 71a).

Wessen Ansicht vertritt diese Baraita? Der Talmud nennt Rabbi Jehuda und Rabbi Schimon. Jeder von ihnen hat einen anderen Grund angegeben, warum es niemals zu einer Steinigung des widerspenstigen Sohnes kommen kann.

Auf den ersten Blick erscheint die Feststellung der Baraita verwunderlich. Wie kann jemand behaupten, dass der Fall auch in Zukunft nicht geschehen wird? In Wirklichkeit stützt sich die klare Aussage über die kommende Zeit auf bestimmte Voraussetzungen. Eine Reihe von Bedingungen muss im Fall des ungehorsamen Sohnes erfüllt sein, bevor das Gericht die Todesstrafe verhängen kann. Und in der Praxis ist es einfach unmöglich, dass sämtliche Voraussetzungen für eine Verurteilung gegeben sind.

Betrachten wir die Ansicht von Rabbi Jehuda: »Gleicht seine Mutter nicht seinem Vater in Stimme, Aussehen und Statur, so gilt er nicht als missratener und widerspenstiger Sohn.« Die Ableitung dieser Regel soll uns jetzt nicht beschäftigen. Wichtig ist festzuhalten, dass man die verlangte Gleichheit niemals finden kann.

Erkenntnis Die zweite Hälfte der oben zitierten Baraita lautet: »Der Fall vom missratenen und widerspenstigen Sohn ist nur deshalb niedergeschrieben worden, damit man für die Schriftforschung eine Belohnung erhalte.« Man soll also die Vorschriften über den unbändigen und widerspenstigen Sohn sorgfältig studieren, um daraus eine Erkenntnis zu gewinnen.

Rabbi Bachja Ben Ascher meint, der Abschnitt über den missratenen Sohn zeige uns, wie groß unsere Liebe zu Gott sein sollte. Es gibt keine größere Liebe als die Liebe von Vater und Mutter zu ihrem Sohn. Und doch sollte die Liebe zu Gott die Eltern dazu bringen, ihren Sohn, der sich als Schlemmer und Säufer erwiesen hat, vor ein Gericht zu stellen. Rabbi Bachja vergleicht die Tat dieser Eltern mit der Bereitschaft Awrahams, seinen geliebten Sohn Jizchak zu opfern.

In eine ganz andere Richtung geht die Interpretation von Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888). Für ihn sind die Aussagen über den widerspenstigen Sohn eine Fundgrube pädagogischer Wahrheiten. Er arbeitet heraus, welche Tipps die Tora gibt, damit es in der Erziehung nicht zu Fehlentwicklungen kommt. Hier sei nur seine Ausdeutung der oben angeführten Ansicht von Rabbi Jehuda zitiert: »Wir schöpfen hieraus die für das ganze Erziehungsgeschäft vielleicht bedeutsamste Grundbedingung, dass im Punkte der Erziehung und des Einflusses auf die Kinder Vater und Mutter völlig gleich, übereinstimmend und eins sein müssen, wenn der Erfolg ein gedeihlicher sein soll.«

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