Wenn der Neumond diesen Samstag über Jerusalem am Abendhimmel erscheint, beginnt der jüdische Monat Elul. »Rosch Chodesch Elul«, der Monatsanfang, ist wie ein Atemzug der Seele im Strom der Zeit. Er ist ein feiner Riss in der Schale der Gewohnheit, durch den ein erstes Licht hereinbricht. Er öffnet das Tor zu den »Jamim Noraʼim«, den Tagen, die uns in heilige Ehrfurcht versetzen – zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur. Wer die innere Stille sucht, hört bereits an diesem Tag das kaum vernehmbare Klingen des Schofars, wie ein fernes Echo, das den Menschen ruft, heimzukehren.
Die Meister Israels enthüllen das Geheimnis von Elul: »Ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter gehört mir« (Schir Haschirim 6,3). Elul ist geprägt von der Liebe – von der Erde zum Himmel und vom Himmel zur Erde. Der Mensch wagt den ersten Schritt, hebt seine Augen empor, tastet nach Gʼtt; und sogleich antwortet Gʼtt mit einem Blick der Nähe, mit Wärme.
Rosch Chodesch Elul flüstert uns zu: Wage es, dein Herz zu öffnen, und du wirst empfangen. Vom ersten Elul bis zum Jom Kippur spannt sich ein heiliger Kreis von 40 Tagen. Damals, nach dem Fall des Goldenen Kalbs, stieg Mosche wieder zum Sinai hinauf. 40 Tage stand er in glühendem Gebet, bis der Himmel antwortete: »Salachti – Ich habe vergeben.« Es war ein Ringen um den Bund, ein Schweben zwischen Bruch und Neugeburt.
Elul ist eine Wiederkehr jener Ur-Stunden am Sinai. Wer jetzt betet, steht im Echo von Mosches Flehen. Wer jetzt umkehrt, berührt denselben Bund, der einst zerbrochen und dann erneuert wurde. Die Vergebung, die einmal errungen wurde, wird in jedem Jahr von Neuem gewährt.
Die Vergebung, die einmal errungen wurde, wird in jedem Jahr von Neuem gewährt.
Die Kabbala lehrt: In diesen Tagen öffnet sich ein Tor der »Jud-Gimel Middot haRachamim«, der 13 Ströme des Erbarmens. Sie sind Lichter, die von Stufe zu Stufe fließen – von der unendlichen Krone Gʼttes bis in das Herz des Menschen. Jede Bitte, jeder Seufzer kann sie anrühren.
Doch gerade weil die Nähe so innig ist, wächst die Verantwortung. Werden wir diese Möglichkeit ergreifen, oder werden wir schweigen, während der König vor uns steht? Das eigentliche Versagen des Menschen liegt nicht immer im bewussten Bösen, sondern im achtlosen Verstreichenlassen des Augenblicks. Im Monat Elul sind wir aufgefordert, die Schläfrigkeit des Alltags abzustreifen, das Wunderhafte im Gewöhnlichen zu entdecken und den König nicht unbeachtet vorüberziehen zu lassen.
So wie die Dämmerung die Nacht zerreißt, so bricht am Neumondstag des Elul die Gewissheit durch, dass der Weg von Teschuwa, von Umkehr, von Gebet und von guten Taten offen vor uns liegt. Ein zarter Beginn, doch in ihm liegt bereits die Kraft der kommenden Feiertage.
Wer das Potenzial des Neumondtags nutzt, legt den ersten Stein in einer Kette heiliger Tage, die sich wie ein leuchtendes Band durch den Frühherbst ziehen. Und wer sein Herz öffnet, vernimmt: Die Luft ist erfüllt von der Liebe Gʼttes und seiner Nähe – und der Schofar klingt schon, leise, von ferne, wie der Ruf der Ewigkeit selbst.