Talmudisches

Der aramäische Tenach

Vor knapp 2000 Jahren wurde der Tanach aus dem Hebräischen ins Aramäische übertragen. Foto: Getty Images / istock

Der Talmud erzählt davon, wie der Tanach aus dem Hebräischen ins Aramäische übertragen wurde (Megilla 3a). Die Übersetzung der Tora wurde von Onkelos erstellt, die der Prophetenbücher von Jonathan ben Uziel.

Als Jonathan ben Uziel mit seinem Teil der Übersetzung fertig war, ereignete sich eine gewaltige Naturkatastrophe: Ein Erdbeben erschütterte das Land Israel auf einer Fläche von 400 Quadratparsa, das sind 6400 Quadratkilometer.

Danach ertönte eine g’ttliche Stimme und sagte: »Wer ist derjenige, der meine Geheimnisse in der Welt offenbarte?« Jonathan ben Uziel antwortete: »Ich habe deine Geheimnisse offenbart. Ich tat dies nicht zu meiner Ehre oder zur Ehre meines Vaters, sondern nur zu Deiner (G’ttes) Ehre – damit die Unklarheiten im Volk Israel sich nicht mehren.«

Diese talmudische Passage wirft viele Fragen auf. Zunächst stellt sich die Frage, wieso die Schriften überhaupt in die aramäische Sprache übersetzt werden mussten. Die einfache Antwort darauf ist wohl, dass die meisten Juden damals im Alltag Aramäisch sprachen. Man wollte sicherstellen, dass die Schriften auch weiterhin von den Massen verstanden werden.

Geheimnisse Aus Jonathan ben Uziels Antwort wird jedoch ersichtlich, dass die Übersetzungen ein weiteres Ziel hatten. Er wollte Geheimnisse offenbaren, damit sich Unklarheiten im Volk Israel nicht mehren.

Die Übersetzungen der Schriften sind immer auch Interpretationen der Übersetzer. Der Text der Tora kann aus verschiedenen Blickwinkeln verstanden werden. Im Laufe der jüdischen Geschichte entdeckten fromme Juden im alten Text der Tora immer wieder neue Tiefe und Relevanz. Diese tiefere Dimension der Tora wird in den mystischen Texten als »Geheimnis« bezeichnet. Es handelt sich dabei um Informationen, die dem Bewusstsein zuvor nicht zur Verfügung standen. Sie waren zwar immer da, doch für uns waren sie geheim.

Das jüdische Volk erkundete den Text der Tora im Laufe der Geschichte immer und immer wieder. So wurden jedes Mal neue Informationen aus dem kollektiven Unterbewusstsein, aus dem Geheimen, ins kollektive Bewusstsein gerufen.

Um einen weiteren Schritt in diesem Erkundungsprozess zu gehen, übersetzte Jonathan ben Uziel die Prophetenbücher. Er war davon überzeugt, dass die Klarheit seiner Interpretation vor künftigen Unklarheiten schützen wird.

Vielleicht kann dies auch beantworten, wieso der Talmud von einem Erdbeben spricht, das sich auf ein Gebiet von 400 Quadratparsa erstreckte.

Metapher Die Zahl 400 lässt sich als Metapher verstehen. Wir treffen auf diese Zahl bereits im 1. Buch Mose: »Gott sprach zu Awram: (...) Deine Nachkommen werden als Fremde in einem Land wohnen, das ihnen nicht gehört. Sie werden dort als Sklaven dienen, und man wird sie 400 Jahre lang hart behandeln (...), und nachher werden sie mit reicher Habe ausziehen« (15, 13–14).

400 Jahre hat es gedauert, um Israel zu einem Volk zu machen – 400 Jahre, um aus der Schwere und der Bedrückung in die Erlösung zu ziehen. Diese Zahl ist das Symbol für einen Prozess, der zwar hart ist, doch aus dem man mit »reicher Habe« herauskommt. Jonathan ben Uziels Übersetzung steht stellvertretend für einen solchen Prozess.

Jeder neue Schritt in Richtung Klarheit ist vergleichbar mit dem Auszug aus Ägypten. Sei es die bahnbrechende Übersetzung Jonathan ben Uziels oder die Lösung eines persönlichen Problems – es ist stets ein Prozess, der durch Schwere und Härte, durch ein persönliches Erdbeben, gekennzeichnet ist und doch am Ende belohnt wird.

Berlin

»So monströs die Verbrechen der Nazis, so gigantisch dein Wille, zu leben«

Leeor Engländer verabschiedet sich in einer berührenden Trauerrede von Margot Friedländer. Wir dokumentieren sie im Wortlaut

von Leeor Engländer  15.05.2025

Schulchan Aruch

Mit Josef Karo am gedeckten Tisch

Ein mittelalterlicher Rabbiner fasste einst die jüdischen Gesetze so pointiert zusammen, dass viele Juden sich bis heute an seinem Kodex orientieren

von Vyacheslav Dobrovych  15.05.2025

Chidon Hatanach

»Mein Lieblingsbuch ist Kohelet«

Wie es zwei jüdische Jugendliche aus Deutschland zum internationalen Bibelwettbewerb nach Israel geschafft haben

von Mascha Malburg  15.05.2025

Vatikan

Leo XIV. schreibt an Oberrabbiner in Rom

Eine seiner ersten persönlichen Botschaften hat Papst Leo XIV. an die Jüdische Gemeinde Rom geschickt. Und eine gute und enge Zusammenarbeit versprochen

von Anna Mertens  13.05.2025

Acharej Mot – Kedoschim

Nur in Einheit

Die Tora lehrt, wie wir als Gemeinschaft zusammenleben sollen

von Rabbiner Raphael Evers  09.05.2025

Talmudisches

Von reifen Feigen

Wie es kam, dass Rabbi Josi aus Jokrat kein Mitleid mit seinen Kindern hatte

von Rabbiner Avraham Radbil  09.05.2025

Philosophie

»Der kategorische Imperativ liebt weder dich noch mich«

Die deutsch-jüdische Aufklärung hat einen gefährlichen Golem erschaffen, behauptet Michael Chighel in seinem neuesten Werk. Sein ehemaliger Schüler hat es gelesen und kritisch nachgefragt

von Martin Schubert  09.05.2025

Interview

»Wir brauchen einen Papst, der politisch trittsicher ist«

Nikodemus Schnabel über den interreligiösen Dialog und einen Favoriten des Papst-Konklaves, den er selbst gut kennt

von Michael Thaidigsmann  07.05.2025

Israel

Knesset-Ausschuss will Christen besser schützen

Übergriffe auf Christen in Israel sind keine Seltenheit - und werden mehr. Damit befasste sich nun ein Parlamentsausschuss. Er fordert ein systematisches Vorgehen gegen das beunruhigende Phänomen

 07.05.2025