Talmudisches

Der Androgynos

Mann oder Frau? Oder etwas anderes? Foto: Thinkstock

Ende 2018 soll in Deutschland eine dritte Geschlechtskategorie im Geburtenregister eingeführt werden: Neben männlichen und weiblichen soll es auch intersexuellen Personen möglich sein, ihre geschlechtliche Identität eintragen zu lassen. So haben die Richter am Karlsruher Bundesgerichtshof entschieden. Denn Menschen, die nicht mit eindeutigen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt kamen, dürften nicht dazu gezwungen werden, sich entweder dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuzuordnen.

Die Infragestellung einer strikten Zweiteilung der Menschen in Frauen und Männer sorgte bereits in der rabbinischen Literatur für rege Diskussion. Im Midrasch Bereschit Rabba, einem Schriftkommentar aus talmudischer Zeit, wird auf den biblischen Vers »Und Gott schuf den Menschen in seinem Ebenbilde, im Ebenbilde Gottes erschuf er ihn; männlich und weiblich erschuf er sie« (1. Buch Mose 1,27) Bezug genommen.

Rabbi Jirmija ben Elazar kommentiert, dass Gott nicht einen weiblichen und einen männlichen Menschen schuf, sondern einen zugleich weiblichen und männlichen Menschen. Er formte ihn mit zwei Gesichtern, das heißt Vorderseiten, und teilte den Körper dann in zwei. Bei der Teilung der beiden Vorderseiten formte er beiden Hälften einen Rücken.

Aus diesem Ur-Menschen wurden so Adam und Eva geformt, führt Rabbi Jirmija aus. Dieses zweigeschlechtliche Urwesen wird hier Androgynos genannt. Es ist ein Lehnwort aus dem Griechischen, das in der rabbinischen Literatur ansonsten eine Person beschreibt, die sowohl männliche als auch weibliche Merkmale in sich vereinigt.

Die Mischna (Traktat Bikkurim) beschreibt den Androgynos als einen Menschen, der männliche und weibliche Geschlechtsorgane besitzt, und führt aus, in manchen Aspekten sei er den Männern gleich, in manchen den Frauen, in manchen beiden und in manchen keinem von beiden. Er soll sich die Haare wie ein Mann schneiden und wie ein Mann die Gebote der Tora einhalten, aber er darf sich nicht allein in einer Gruppe von Männern aufhalten, und er wird unrein durch Menstruation (falls vorhanden) wie eine Frau. Wenn möglich soll er beschnitten werden, aber es wird keine Bracha gesagt.

Ehe Im Babylonischen Talmud wird ferner diskutiert, ob und unter welchen Umständen der Androgynos eine Ehe eingehen kann. Die Weisen sind sich uneins, ob der Androgynos eine Frau heiraten darf. Sie sind sich aber sicher, dass er unter keinen Umständen die Ehe mit einem Mann eingehen kann. Rabbi Josei äußert, dass es schlichtweg unmöglich ist, den Androgynos in das binäre Geschlechtersystem einzuordnen: »Der Androgynos ist ein eigenständiges Wesen, und die Weisen können nicht entscheiden, ob er männlich oder weiblich ist« (Jebamot 83a).

Neben dem Androgynos beschreibt die rabbinische Literatur einen weiteren intersexuellen Menschen, den Tumtum. Maimonides, der Rambam (1135–1204), definiert den Tumtum als einen Menschen, der weder weibliche noch männliche Sexualorgane hat, oder sie liegen im Inneren des Körpers.

Im Gegensatz zum Androgynos, der eine mehrdeutige Geschlechtsidentität besitzt, ist der Tumtum entweder Mann oder Frau, doch lässt es sich nicht klar definieren. Daher ist er verpflichtet, so führt der Rambam aus, alle Gebote der Tora zu erfüllen.

Mizwot Da er ein Mann sein könnte, muss er alle für Männer bindenden Mizwot erfüllen. Da es sich aber auch herausstellen könnte, dass er eine Frau ist, muss er die Gebote der Frau ebenfalls erfüllen.

Wo die Rabbinen nur darüber diskutieren konnten, wie eine Person in das binäre Geschlechtersystem einzuordnen ist, bietet die moderne Medizin die Möglichkeit, die Genitalien eines Neugeborenen mit unklaren Geschlechtsmerkmalen zum einen oder anderen Geschlecht hin anzupassen. Doch der Eingriff birgt Risiken. Denn das vom Chirurgen »hergestellte« Geschlecht muss nicht der eigenen Geschlechtsidentität entsprechen, die das Kind später entwickelt.

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  17.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025