Talmudisches

Dem anderen vergeben

Eine Geste der Versöhnung Foto: Getty Images

Talmudisches

Dem anderen vergeben

Wie wir handeln sollen, wenn uns jemand Unrecht tut

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  13.01.2023 09:00 Uhr

Ein friedliches und harmonisches Miteinander ist die unabdingbare Grundlage jedes Miteinanders, egal ob in der Familie, der Gemeinde oder der Gesellschaft. Selbstverständlich liegt es in der Natur der Sache, dass es immer wieder zu Differenzen und Meinungsverschiedenheiten kommt, teilweise auch zu Streit, der dann manchmal auch in Zwietracht endet. Umso wichtiger ist es, dass beide Seiten den Wunsch haben, das Zerwürfnis schnell zu beenden. Dabei spielt die Vergebung eine wichtige Rolle.

Der Jerusalemer Talmud (Joma 45c) gibt dafür klare Regeln vor: »Einer, der gegen seinen Mitmenschen gesündigt hat, muss zu ihm sagen: ›Ich habe gegen dich falsch gehandelt.‹ Wenn er das annimmt, ist es schön und gut; wenn nicht, bringe er Personen mit und versöhne sich mit ihm in ihrer Gegenwart, wie es heißt: ›Er macht Reihen (von Menschen) vor den Menschen und sagt: Ich habe gesündigt und das Recht verdreht, und es hat mir nichts genützt‹ (Hiob 33,27.) Wenn er das tut, sagt die Schrift von ihm: ›Er hat meine Seele davon erlöst, in die Grube zu gehen, und mein Leben soll das Licht erblicken‹ (33,28). Wenn der Beleidigte gestorben ist, muss er sich mit ihm über seinem Grab versöhnen und sagen: ›Ich habe dir Unrecht getan.‹«

unrecht An anderer Stelle im Talmud heißt es: »Wenn jemand einen anderen zu Unrecht verdächtigt, muss er sich mit ihm versöhnen – mehr noch, er muss ihn segnen« (Brachot 31b). Es gibt jedoch ein Limit für die Anzahl der Versöhnungsversuche. Nach Ansicht der Mehrheit der Rabbiner sind es nicht mehr als drei (Joma 87a). Trotzdem sollte natürlich alles versucht werden, den Zwist so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen, was auch für den Verursacher von Vorteil ist.

Es ist die Pflicht des Geschädigten, die Entschuldigung anzunehmen und nicht weiter Groll zu hegen.

Rabbi Nechunja ben HaKana wurde einmal von seinen Schülern gefragt, aufgrund welcher Tugend er mit Langlebigkeit gesegnet worden sei. Seine Antwort: »Nie stieg der Fluch meines Mitmenschen auf mein Bett« (Megilla 28a). Damit meinte er, es sei ihm, bevor er abends zu Bett ging, immer gelungen, jeden, den er tagsüber beleidigt oder schlecht behandelt hatte, zu besänftigen. Ähnlich hat es später im Mittelalter auch der Rambam in seine Mischna Tora übernommen.

Natürlich ist es auch die Pflicht des Geschädigten, die Entschuldigung, wenn sie ihm mit echter Reue angeboten wird, anzunehmen und nicht weiter Groll zu hegen: »Ein Mann sollte immer weich wie ein Schilfrohr und nicht hart wie eine Zeder sein« (Tannit 20b).

Konflikt Zwar ist das nicht immer einfach, und wir wollen es demjenigen, der uns das Leben schwer macht oder uns unfair behandelt, meist nicht zu einfach machen und schnell vergeben. Letztlich lastet ein Konflikt aber immer auf uns, selbst wenn wir im Recht sind.

Wenn Mar Sutra abends zu Bett ging, sagte er daher zuerst: »Ich vergebe jedem, der mir Ärger bereitet hat« (Megilla 28a). Damit bereiteten ihm Konflikte nie schlaflose Nächte.

Ähnlich formuliert es eine Weisheit aus Awot de Rabbi Nathan, die helfen kann, Streitigkeiten zu mildern und sie schnell zu beenden: »Wenn du deinem Mitmenschen ein wenig Unrecht getan hast, lass es in deinen Augen groß sein; wenn du ihm viel Gutes getan hast, lass es in deinen Augen wenig sein; wenn er dir ein wenig Gutes getan hat, lass es in deinen Augen groß sein; wenn er dir großes Unrecht getan hat, lass es in deinen Augen wenig sein.«

vergebung Sich gar zu weigern, die Angebote um Vergebung abzulehnen, ist indes inakzeptabel. In den Pirkej Awot sagt Schmuel HaKatan: »Freue dich nicht, wenn dein Feind fällt, und lass dein Herz nicht froh sein, wenn er stolpert, damit der Ewige es nicht sieht und es Ihm missfällt und Er seinen Zorn von ihm abwendet.«

Der Mensch also, der die Vergebung ablehnt und die Feindschaft bewahrt und sich freut, wenn dem anderen Unglück widerfährt, wird dadurch selbst zum Schuldigen.

Gespräch

Beauftragter Klein: Kirche muss Antijudaismus aufarbeiten

Der deutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein kritisiert die Heiligsprechung des Italieners Carlo Acutis. Ihm geht es um antijüdische Aspekte. Klein äußert sich auch zum christlich-jüdischen Dialog - und zum Papst

von Leticia Witte  13.06.2025

Beha’Alotcha

Damit es hell bleibt

Wie wir ein Feuer entzünden und dafür sorgen, dass es nicht wieder ausgeht

von Rabbiner Joel Berger  13.06.2025

Talmudisches

Dankbarkeit lernen

Unsere Weisen über Hakarat haTov, wie sie den Menschen als Individuum trägt und die Gemeinschaft zusammenhält

von Diana Kaplan  13.06.2025

Tanach

Schwergewichtige Neuauflage

Der Koren-Verlag versucht sich an einer altorientalistischen Kontextualisierung der Bibel, ohne seine orthodoxen Leser zu verschrecken

von Igor Mendel Itkin  13.06.2025

Debatte

Eine »koschere« Arbeitsmoral

Leisten die Deutschen genug? Eine jüdische Perspektive auf das Thema Faulheit

von Sophie Bigot Goldblum  12.06.2025

Nasso

Damit die Liebe bleibt

Die Tora lehrt, wie wir mit Herausforderungen in der Ehe umgehen sollen

von Rabbiner Avichai Apel  06.06.2025

Bamidbar

Kinder kriegen – trotz allem

Was das Schicksal des jüdischen Volkes in Ägypten über den Wert des Lebens verrät

von Rabbiner Avraham Radbil  30.05.2025

Schawuot

Das Geheimnis der Mizwot

Der Überlieferung nach erhielt das jüdische Volk am Wochenfest die Tora am Berg Sinai. Enthält sie 613 Gebote, oder sind es mehr? Die Gelehrten diskutieren seit Jahrhunderten darüber

von Rabbiner Dovid Gernetz  30.05.2025

Tikkun Leil Schawuot

Nacht des Lernens

Die Gabe der Tora ist eine Einladung an alle. Weibliche und queere Perspektiven können das Verständnis dabei vertiefen

von Helene Shani Braun  30.05.2025