Kapitalverbrechen

Das sechste Gebot

Wenn ein Mensch ermordet wird, stirbt mit ihm eine ganze Welt – so steht es im Talmud. Foto: Getty Images / istock

Du sollst nicht morden!» (2. Buch Mose 20,13): Mit wenigen klaren Worten wird die zweite Hälfte der zehn g’ttlichen Verlautbarungen eingeleitet. Dabei verliert die gängige deutsche Formulierung eigentlich schon zu viele Worte. Denn die konsequente Übersetzung des hebräischen Originals lautet: «Morde nicht!» Prägnant, unmissverständlich, eindringlich. Eine kompromisslose Forderung, ein direkter Aufruf, ein eindeutiges Verbot.

Und doch provoziert diese Vorschrift so manchen Trugschluss. Gerade Pazifisten, Gegner der Todesstrafe und mitunter auch Vegetarier zitieren – selbst wenn sie mit G’tt und dessen Geboten sonst überhaupt nichts am Hut haben – zur Bestätigung ihrer Auffassung gerne die Hebräische Bibel und behaupten, dass das sechste Gebot eindeutig besage, dass man nicht töten dürfe. Doch damit befinden sie sich gänzlich auf dem Holzweg.

KING-JAMES-BIBEL Zugegeben: Selbst in der King-James-Bibel, welche als einflussreichste und am weitesten verbreitete Übersetzung der Tora ins Englische gilt, heißt es, dass man nicht töten dürfe, also «You shall not kill». Vergessen wird dabei jedoch mitunter, dass diese Übersetzung inzwischen über 400 Jahre alt ist und der damals zur Verfügung stehende englische Wortschatz keine Unterscheidung zwischen den Verben «töten» und «morden» hergab.

Da lebendige Sprachen sich aber nun einmal in einem stetigen Entwicklungsprozess befinden und dabei auch von anderen Sprachen beeinflusst werden, verfügt auch das Englische mittlerweile über eine eigene Vokabel für Mord. Ebenso wie das Deutsche. Vor allem aber verwendet schon das hebräische Original – und nur das ist letztlich entscheidend – zwei unterschiedliche Verben, nämlich «harag», was übersetzt «töten» bedeutet, und «ratzach», was «morden» meint. Doch was soll diese Wortklauberei? Sind dies nicht nur semantische Feinheiten, die in der Praxis überhaupt keine Rolle spielen? Nein, keinesfalls! Die sprachliche Unterscheidung ist hier absolut entscheidend und beinhaltet einen himmelweiten Unterschied zwischen den beiden Handlungen!

STRAFRECHT Eine leise Vorahnung, worum es hier eigentlich geht, erhascht man bei einem Blick ins deutsche Strafrecht. Auch dieses unterscheidet nämlich zwischen Mord und Totschlag. Es handelt sich um verschiedene Delikte, die unterschiedliche Strafen nach sich ziehen. Der Mord ist quasi eine besonders schwere Form der Tötung, für die eine lebenslange Freiheitsstrafe vorgesehen ist, während der Totschlag mit maximal 15 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden kann.

Der Mörder handelt außerdem besonders verwerflich, also etwa aus niederen Beweggründen, heimtückisch oder grausam. Und auch wenn sich das hiesige Strafrecht nur schwer mit dem biblischen Rechtssystem vergleichen lässt, weist die Unterscheidung in die richtige Richtung.

Auch im Strafrecht wird zwischen Mord und Totschlag unterschieden.

Klar ist jedenfalls, dass auch in der Tora sowohl im Fall des Totschlags wie auch im Fall des Mordes ein Leben genommen wird. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Denn man kann Menschen ebenso töten wie Tiere. Absichtlich oder unabsichtlich. Gerechtfertigt oder ungerechtfertigt. Rechtmäßig oder unrechtmäßig. Bei Mord allerdings sieht es anders aus: Denn ein Mord an einem Tier ist ebenso unmöglich wie ein versehentlicher oder moralisch gerechtfertigter Mord an einem Menschen.

In der jüdischen Tradition jedenfalls meint Mord das ungerechtfertigte, unmoralische, ungesetzliche, also unrechtmäßige Auslöschen menschlichen Lebens. Es ist damit das ultimative Verbrechen, welches gegenüber einem Mitmenschen begangen werden kann, und wird deshalb an mehreren Stellen aufs Schärfste verurteilt.

Das heißt jedoch nicht, dass daraus ein allgemeines und unbedingtes Tötungsverbot abgeleitet werden kann. Ganz im Gegenteil. Denn schließlich gibt es mehrere Passagen in der Tora, in denen andere Formen des Tötens nicht nur erlaubt, sondern explizit eingefordert werden! In jedem einzelnen der Fünf Bücher Mose etwa wird in unterschiedlichen Worten zum Ausdruck gebracht, was G’tt nach der Sintflut zu Noah sprach: «Wer das Blut eines Menschen vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden.»

Aber wie ist das möglich? Wie kann es sein, dass das Blutvergießen an einer Stelle verboten und an anderer Stelle geradezu verlangt wird? Und wie passt die Todesstrafe in dieses Bild hinein? Was auf den ersten Blick paradox erscheint, erklärt sich bei genauerem Hinsehen: Die Tora misst dem menschlichen Leben als solchem einen ausgesprochen hohen Wert zu.

EBENBILD Der frühere Oberrabbiner Großbritanniens, Joseph Hertz, schreibt in seinem Torakommentar dazu: «Der unbegrenzte Wert des Menschenlebens beruht auf der Tatsache, dass der Mensch ›im Ebenbild G’ttes‹ geschaffen worden ist.» Und das gilt unabhängig von Alter, Herkunft, Religion, Nationalität oder Geschlecht.Diese fundamentale Idee wird von einer ganzen Reihe von Vorschriften umrahmt und geschützt. So dürfen nahezu alle Ge- und Verbote, die sich in der Tora und den Kommentaren finden, übertreten werden, um ein Menschenleben zu retten.

Konkret heißt dies zum Beispiel, dass die Abwehr eines Angriffs im Einzelfall auch dann erlaubt sein kann, wenn sie im Extremfall den Tod des Angreifers nach sich zieht. Und dabei spielt es keine Rolle, ob man selbst oder ein anderer Ziel der Attacke ist. Im 3. Buch Mose (19,17) heißt es dazu, dass du nicht stehen darfst wider das Blut deines Nächsten. Mit anderen Worten: Man ist verpflichtet einzugreifen, wenn ein anderer Mensch Opfer eines unrechtmäßigen Angriffs wird.

Die Tora begnügt sich also nicht damit, Strafen für den Fall vorzusehen, dass man die Hilfeleistung unterlassen hat, sondern fordert stattdessen unmissverständlich dazu auf, sich für andere einzusetzen, die Opfer eines Angriffs werden, solange man sich dabei nicht selbst in Lebensgefahr begibt.

TODESSTRAFE Damit ist aber immer noch nicht beantwortet, wie die Todesstrafe in dieses Bild hineinpasst. Doch auch hier folgt die Tora ihrer eigenen Logik ganz konsequent: Die immense Wertschätzung für das Leben als solches, für den Menschen als von G’tt in dessen Ebenbild geschaffenes Wesen, für dieses einzigartige, vernunftbegabte und mit freiem Willen ausgestattete Geschöpf führt nämlich geradewegs zu dem genannten Prinzip: «Wer das Blut eines Menschen vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden.»

Wer einen anderen Menschen ermordet – und es geht hier um Mord, nicht um Totschlag –, leugnet nicht nur die G’ttähnlichkeit des Menschen, wie es Rabbi Luntschitz in seinem Kommentar (Kli Jakar, 16. Jahrhundert) ausdrückt, sondern er bringt damit auch zum Ausdruck, dass er all das verachtet, was den ethischen Monotheismus ausmacht. Die Wertschätzung für das Leben, für den Menschen, für die Schöpfung. Die Akzeptanz einer von G’tt ausgehenden universellen moralischen Grundordnung und das ständige Streben nach einer besseren Welt.

Der Mörder, der eine Existenz auslöscht, muss dafür bezahlen.

Der Mörder verhöhnt diese Prinzipien, macht sich zum Herrn über Leben und Tod und vernichtet schließlich ein menschliches Leben. Löscht eine Existenz unwiederbringlich aus. Er handelt unmoralisch, ungerechtfertigt, ungesetzlich. Und dafür muss er bezahlen. Und sei es mit dem eigenen Leben.

Damit wird sowohl die Abschreckung weiterer potenzieller Täter verfolgt als auch der Schutz, die Sicherheit und der Zusammenhalt des Volkes sowie der Gesellschaft als solcher gewährleistet. Außerdem wird das begangene Unrecht gesühnt. Die Balance wird wiederhergestellt. Und der Gerechtigkeit wird Genüge getan.

Zumindest in der grauen, biblischen Theorie. In der Praxis sah es hingegen anders aus. Denn obwohl die Todesstrafe in unterschiedlichen Fällen vorgesehen war, verbot die Tora gleichzeitig Selbstjustiz, Lynchmorde oder Racheakte aller Art. Stattdessen verlangte sie im 4. Buch Mose, «dass der Mörder nicht sterbe, bevor er vor der Gemeinde nicht zu Gericht gestanden habe» (4. Buch Mose 35,12). Das bedeutet, dass der Täter – bevor ein solches Urteil gefällt oder vollstreckt werden konnte – zunächst einem Gericht zugeführt werden musste und einen ordentlichen Prozess erwarten konnte.

SANHEDRIN Dies geschah vor dem sogenannten Sanhedrin, also dem hohen Rat, dem allerdings bereits unter römischer Herrschaft diese Kompetenzen entzogen wurden und der seit dem Jahre 70 nicht mehr existiert, womit auch die Todesstrafe schon früh ad acta gelegt wurde.

Davon abgesehen haderten die Rabbinen schon in der Antike mit der Todesstrafe, weshalb sie deren Durchsetzung nach und nach an so viele Bedingungen und Voraussetzungen knüpften, dass sie in der Praxis bereits seit über 2000 Jahren kaum mehr Anwendung fand.

Ein ausdifferenziertes Rechtssystem, das im Lichte der grundlegenden Wertvorstellungen des Judentums entwickelt wurde, führte somit dazu, dass Theorie und Praxis in dieser Frage getrennte Wege gingen. So lässt sich auch eine Passage im Talmud erklären, wonach ein Gerichtshof, der einmal in sieben oder gar einmal in 70 Jahren ein Todesurteil vollstreckt, ein Verderben bringender Gerichtshof genannt wird (Makkot 1:10).

All das ändert allerdings nichts daran, dass das Verbot zu morden an erster Stelle auf der zweiten Bundestafel seinen Platz gefunden hat. Es steht damit an der Spitze der zwischenmenschlichen Gesetze, womit uns ein für alle Mal und ohne jeden Zweifel vor Augen geführt wird, dass es nichts Schlimmeres gibt, als einen Mitmenschen zu ermorden. Denn mit ihm – so sagt es der Talmud – stirbt eine ganze Welt.

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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