17. Tamus

Das ist erst der Anfang

Auch das Zerbrechen der Gesetzestafeln soll laut der Mischna am 17. Tamus stattgefunden haben. Foto: Getty Images

Der 17. Tag des hebräischen Monats Tamus (dieses Jahr: Sonntag, der 13. Juli) ist kein gewöhnlicher Tag im jüdischen Kalender. Es ist ein Tag des Fastens, der Trauer und tiefen Besinnung – aber auch der Hoffnung. An diesem Tag beginnt eine dreiwöchige Periode nationaler Trauer, die in Tischa beAw, dem neunten Aw (dieses Jahr der 3. August), gipfelt – dem Tag, an dem sowohl der Erste als auch der Zweite Tempel zerstört wurde.

Doch die Bedeutung des 17. Tamus reicht weiter zurück und berührt das Zentrum des jüdischen Bewusstseins: das kollektive Gedächtnis, das Bewusstsein des Verlusts und das ewige Verlangen nach Wiederherstellung. Die Mischna (Taanit 26a) nennt fünf tragische Ereignisse, die an diesem Datum geschahen. Sie bietet einen Querschnitt durch die ersten anderthalb Jahrtausende des Judentums:

Das Zerbrechen der Gesetzestafeln – Mosche zerbrach die ersten Tafeln, als er sah, dass das Volk sich das Goldene Kalb geschaffen hatte.

Das Aufstellen eines Götzen im Tempel – manchen Meinungen zufolge geschah dies unter der Herrschaft von König Menasche.

Die Einstellung des täglichen Opfers – in den Tagen des Ersten Tempels unter dem Druck der babylonischen Belagerung.

Das öffentliche Verbrennen einer Tora­rolle – durch einen römischen General, kurz vor der Zerstörung des Zweiten Tempels.

Der Durchbruch der Mauern Jerusalems – durch die Römer, was zur Zerstörung des Zweiten Tempels führte.

Das Fasten ist eine Einladung zur Reflexion: Was ist uns verloren gegangen?

Diese Ereignisse markieren eine fortschreitende Zerstörung der geistigen und nationalen Integrität des jüdischen Volkes – vom Bruch des Bundes mit G’tt bis zur Vernichtung Seines physischen Hauses auf Erden. Der 17. Tamus ist mehr als ein Tag der Trauer. Es ist ein Moment, an dem Vergangenheit und Zukunft einander begegnen. Die Fastenrituale sind nicht bloße Symbolik, sondern eine Einladung zur Reflexion und Handlung. Was ist alles zerbrochen – und wie können wir es reparieren?

Der Verlust ist nicht nur materieller Natur, sondern vor allem geistiger

Das Fasten erinnert uns daran, dass der Verlust nicht nur materieller Natur ist, sondern vor allem geistiger. Doch in diesem Verlust steckt auch der Samen eines Neuanfangs. Mit dem 17. Tamus beginnen Bejn Hamezarim, »die Tage zwischen den Engpässen« (Eicha 1,3). In dieser Zeit legen wir uns Einschränkungen auf, wie den Verzicht auf Hochzeiten, Musik und neue Kleidung. In der zweiten Phase, ab dem Neumond des Aw, verzichten wir sogar auf Fleisch und Wein (außer am Schabbat).

Diese Periode abnehmender Freude ist kein Selbstzweck, sondern Vorbereitung. Der Prophet Secharja (8,19) spricht von einer Zukunft, in der die Fastentage des vierten, fünften, siebten und zehnten Monats in Tage der Freude und des Festes verwandelt werden. Das Leid ist vorübergehend – die Wiederherstellung ewig.

Unsere Weisen haben die Trauer vom 17. Tamus über drei Wochen sorgfältig aufgebaut. Den Höhepunkt bildet der 9. Aw. Dabei geht es um den Verlust der beiden Tempel, von den feindlichen Eroberungen bis zur endgültigen Zerstörung. Nichts davon steht jedoch im Tanach.

Das Einzige, worüber die Tora selbst im Zusammenhang mit diesen drei Wochen spricht, ist der Tag, an dem die Kundschafter, die das Heilige Land für die Israeliten begutachten sollten, in die Wüste zurückkehrten und das jüdische Volk dazu anstifteten, gegen G’tt zu rebellieren, weil sie nicht nach Israel gehen wollten. Das war am 9. Aw. Es ist kein Zufall, dass die Heilige Schrift in dieser Szenerie das Trauerdatum das erste Mal erwähnt.

Ende unserer Unabhängigkeit in einem eigenen Land Israel

Denn die letztendliche Zerstörung, die wir in den drei Wochen betrauern, betraf nicht nur Jerusalem und die Tempel, sondern führte tatsächlich zum Ende unserer Unabhängigkeit in einem eigenen Land Israel. 2000 Jahre lang gingen wir ins Exil. Das Land, das uns in Ägypten versprochen wurde, das die Kundschafter für schlecht empfanden und davon abrieten, das Land, das wir schließlich doch eroberten, um den Tempel zu errichten, war wieder verloren.

Dies ist ebenfalls ein wichtiger Grund für die große Trauer, an die sowohl am 17. Tamus als auch am 3. Tischri (Fasttag Zom Gedalja) erinnert wird. Es wird nicht oft betont, aber der Verlust unserer Unabhängigkeit und unseres eigenen Landes war der Schlussstein der Zerstörung der beiden Tempel und Jerusalems.

Die Verweigerung der zehn Kundschafter, das Land Israel zu betreten, war ein katastrophaler Wendepunkt in der Geschichte des jüdischen Volkes. Der Aufstand führte dazu, dass die gesamte Generation der aus Ägypten ausgezogenen Juden in der Wüste sterben musste.

In der Wüste lebten sie von Manna und Wachteln, in Israel hätten sie arbeiten müssen.

Warum wollten die Kundschafter nicht ins Gelobte Land? In der Wüste lebten die Israeliten unter idealen Bedingungen: gʼttliche Versorgung mit Manna und Wachteln, Wasser aus Mirjams Felsen, Schutz durch gʼttliche Wolken – ein Leben ohne Sorgen, erfüllt von Torastudium. Im Land Israel hingegen würden sie arbeiten müssen.

Doch genau darin liegt ein zentraler Punkt des Judentums: Das Heilige soll nicht abseits der Welt geschehen, sondern mitten im irdischen, materiellen Leben. Die Weigerung, nach Israel zu gehen, war ein Ausdruck des Rückzugs aus der Realität und eine Ablehnung von G’ttes Auftrag.

Wie konnte es passieren, dass das jüdische Volk gegen sein eigens ihm versprochenes Land rebellierte?

Wie konnte es passieren, dass das jüdische Volk gegen sein eigens ihm versprochenes Land rebellierte? Rabbi Jissachar Schlomo Teichtal (1885–1945), der in der Schoa ermordet wurde, sah in dieser Episode ein Muster, das sich in seiner Zeit wiederholte. Aufgewachsen in der chassidischen Welt, erkannte er später, dass das Land Israel für das Überleben des jüdischen Volkes entscheidend hätte sein können. In seinem Werk reflektierte er, wie die Kundschafter das ganze Volk gegen Israel aufbringen konnten – ganz ohne moderne Medien.

Die Tora berichtet, dass das gesamte Volk zu weinen begann und gegen Mosche rebellierte (4. Buch Mose 14). König David beschreibt, dass der Aufruhr »in den Zelten begann« (Tehillim 106). Rabbi Teichtal analysiert: Die Kundschafter nutzten Emotion und Schauspiel. Sie inszenierten nach ihrer Rückkehr dramatische Szenen in ihren Familien – sie fielen um, waren wie von Angst gelähmt. So beeinflussten sie Ehepartner, Kinder, Nachbarn – und da man in der Wüste eng zusammenlebte, verbreitete sich die Panik rasch. Immer wieder wurden dieselben Schauergeschichten erzählt: von übermächtigen Riesen, unbezwingbaren Städten. Diese emotionale Manipulation ersetzte jede faktische Analyse – ein Fall früher Massenbeeinflussung.

Die Folge war tragisch: Ein ganzes Volk verlor den Mut und das Vertrauen in G’tt. Aus einem kleinen Drama entstand ein nationaler Aufstand. Die Tora beschreibt dies nochmals im 5. Buch Mose. Die Spione »ließen das Herz des Volkes schmelzen«. So zeigt diese Episode, wie gefährlich Propaganda wirken kann. Kleine Lügen, geschickt erzählt, haben gewaltige Auswirkungen. Der Widerstand gegen das Land Israel wurde zur Ursünde des Exils, das nach den drei Trauerwochen begann.

Nicht nur eine nationale Katastrophe, sondern eine geistige Amputation

Auch die Zerstörung des Tempels war nicht nur eine nationale Katastrophe, sondern eine geistige Amputation. Der Tempel war das Herz der gʼttlichen Gegenwart. Hier begegneten sich Himmel und Erde. Gebet, Gerechtigkeit, Frieden – all das fand im Mikdasch, dem Heiligtum, seine Ordnung.

Heute fehlt dieses Zentrum. Die Synagoge ist ein Mikdasch me’at – ein kleines Heiligtum –, und das Gebet ersetzt die Opfer. Doch wir spüren den Mangel. Nicht aus Nostalgie, sondern aus einem Hunger nach Sinn. Die Leere auf dem Tempelberg ist spürbar, weil sie auf eine Welt verweist, in der Gerechtigkeit und Gʼttesnähe wieder erfahrbar sein sollten. Das Fehlen eines Heimatlandes hat auch unsere Glaubenserfahrung stark beeinflusst.

Das Fasten am 17. Tamus ist also keine passive Trauerform, sondern ein aktiver Schrei aus dem Exil, in dem wir noch immer leben, auch wenn wir heute wieder in Israel wohnen. Wie der Midrasch sagt: »Jede Generation, in der der Tempel nicht wiederaufgebaut wird, soll es betrachten, als wäre er in ihrer Zeit zerstört worden« (Jeruschalmi, Joma 1,1).

Unser Fasten ist ein Anfang. Ein Beginn des Wiederaufbaus – geistig und praktisch. Durch das Studium der Tempelgesetze, durch Liebe zum Nächsten und durch Gebet schaffen wir Raum für die Rückkehr der Schechina, der gʼttlichen Gegenwart. Jede Träne, jeder Psalmvers, jedes aufrichtige Verlangen ist ein Stein im Fundament des zukünftigen Mikdasch.

Eine Verheißung, die prophezeit wurde

Der Wiederaufbau des Tempels ist keine politische Vision oder bloßes religiöses Gefühl – es ist eine Verheißung, die prophezeit wurde: »Und es wird geschehen am Ende der Tage, dass der Berg des Hauses G’ttes fest gegründet dastehen wird, und alle Völker werden zu ihm strömen« (Jeschajahu 2,2).

Am 17. Tamus blicken wir nicht nur zurück, sondern auch nach vorn. In den Trümmern der Vergangenheit liegt der Samen der Zukunft. Wir fragen uns ganz bewusst: Welche Rolle spiele ich beim Wiederaufbau dessen, was verloren ging? Dreimal am Tag beten fromme Juden in der Amida: »Uwneh Jeruschalajim ir ha-kodesch bimhera wejamenu – Baue Jerusalem, die heilige Stadt, bald in unseren Tagen wieder auf.«

Das Heilige soll nicht abseits der Welt sein, sondern mitten im Leben.

Doch was ist unser Anteil? Indem wir uns für Mitgefühl, Gerechtigkeit und Demut entscheiden, bauen wir an dieser Zukunft. Es beginnt mit kleinen Taten – einem offenen Ohr, dem Kampf gegen eine alltägliche Ungerechtigkeit, der Dankbarkeit für das, was wir haben. Jede gute Tat ist ein Baustein.

Doch dies ist keine Mission für einen Einzelkämpfer. Wie Steine einander im Bauwerk stützen, so müssen auch wir gemeinsam voranschreiten. Gemeinschaft, Solidarität und gegenseitiger Respekt sind unser Zement. So schaffen wir den Raum für eine neue Realität, in der G’ttes Gegenwart wieder unter uns wohnen kann.

Lassen wir den 17. Tamus einen Ruf zur Tat, zur Liebe, zur Erneuerung sein. Lassen wir uns mit Sehnsucht fasten. Mit Hoffnung trauern. Und jeden Tag so leben, als könne morgen das Schofar der Erlösung erklingen.

Der Autor ist Rabbiner und Dayan. Er lebt in Israel.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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