Ja, ich habe gehört, dass es noch einen Feiertag gibt, aber selbst kann ich nicht freinehmen, da ich bereits für die Hohen Feiertage freigenommen habe«, erwiderte mein jüdischer (aber leider jüdisch nicht besonders versierter) Professor, als er zustimmte, dass ich eine für Sukkot vorgesehene Prüfung einige Tage früher ablegen kann.
In der Tat ist der jüdische Kalender im Monat Tischri stark mit Feiertagen besetzt. Auf Rosch Haschana, Jom Kippur und Sukkot folgen die Feiertage Schemini Azeret am 22. und das große Finale – also Simchat Tora, das Torafreudenfest – am 23. Tischri. Jährlich stellen viele Juden unter Beweis, dass jüdische Feiertage heilig und unverhandelbar sind, wenn sie im Tischri mehrere Tage arbeitsfrei nehmen.
Simchat Tora ist nichts anderes als der zweite Tag von Schemini Azeret.
Und trotz der von Rosch Haschana, Jom Kippur (wegen der festlichen Mahlzeit vor dem Fasttag und des unvermeidlichen Esswettbewerbs unmittelbar danach) und Sukkot zu eng gewordenen Hosen werden sie sich zu den zwei letzten Feiertagen wieder jeweils nach dem G’ttesdienst an die Festtafel setzen. Da wundert es, dass der fakultative Brauch, zwischen Sukkot und Pessach jeweils am Montag und Donnerstag zu fasten, nicht populärer ist. Immerhin muss ja für die Krapfen und Latkes von Chanukka Platz geschaffen werden.
Was aber bedeuten die letzten beiden Feiertage im Herbst, Schemini Azeret und Simchat Tora? Und wieso feiern Israelis beide Feiertage am gleichen Tag, während wir in der Diaspora sie an zwei Tagen hintereinander feiern?
8. TAG An zwei Stellen in der Tora werden alle jüdische Feiertage der Reihenfolge nach aufgezählt, einmal im 3. Buch Mose 23 und einmal im 4. Buch Mose 28–29. Alle Feiertage? Nein, einige Feiertage fehlen, insbesondere Simchat Tora. Der Grund dafür ist, dass es eigentlich gar keinen Feiertag mit dem Namen Simchat Tora gibt. Im Gebet nennen wir den letzten Feiertag des Monats Tischri genau wie den Tag davor, »Jom haSchemini, Chag ha’Azeret hase«, den achten Tag, der ein Versammlungstag (also ein Feiertag) ist. Wer in einer Zeitmaschine eine Gemeinde in Rom, Basel oder Köln im 4. Jahrhundert besuchen könnte, würde beobachten, dass sie wie wir den 23. Tischri als Feiertag arbeitsfrei einhalten, aber ohne irgendetwas von Simchat Tora zu wissen.
Der Tag, den wir Simchat Tora nennen, ist nämlich nichts anderes als der zweite Tag von Schemini Azeret, und Schemini Azeret kommt in den obigen Listen in der Tora definitiv vor. Zu Sukkot fand ein intensiver Tempeldienst statt, in dem wir für die ganze Welt beteten. Schemini Azeret ist ein privates, bescheidenes Fest für die »Crew«, die so hart zu Sukkot gearbeitet hat, also für das Volk Israel, das gerade eine Woche für das Klima (den Regen) und das Wohl der gesamten Menschheit bat. Es gibt keine besondere Mizwa, die ausgerechnet zu Schemini Azeret erfüllt wird, wie Mazza zu Pessach und die Sukka an Sukkot. Damit lädt dieses Fest zu weiteren Schichten der Deutung ein.
Wochenabschnitt Um Simchat Tora besser zu verstehen, müssen wir vom wöchentlichen Schabbatg’ttesdienst sprechen. Heutzutage lesen wir wöchentlich eine Parascha (manchmal eine Doppelparascha), damit wir in einem Jahr den gesamten Pentateuch, die fünf Bücher Mose, in der Synagoge vortragen. Das war nicht immer und überall so.
In der Spätantike und im frühen Mittelalter bestanden diesbezüglich zwei ganz unterschiedliche Bräuche. In Persien, das wir Juden noch immer Babylonien nannten, entstand der Vorläufer des heutigen Brauchs: Man vollendete die Tora in einem Jahr. Im Heiligen Land vollendete man die Tora aber in dreieinhalb Jahren und erläuterte dafür wöchentlich die rabbinische Exegese, die Auslegung der mündlichen Überlieferung zum Wochenabschnitt (das Gebet verlangte also nicht weniger Zeit als heute).
Wir feiern, dass wir gemeinsam die Lesung der Tora vollendet haben.
Erst als sich der babylonische Brauch vollständig durchsetzte und man sich überall entschied, am zweiten Tag von Schemini Azeret die Tora gemeinsam zu vollenden, konnte das Fest Simchat Tora entstehen. Im 8. Jahrhundert wird der zweite Tag von Schemini Azeret zum ersten Mal Simchat Tora genannt. Im 12. Jahrhundert kann Maimonides nur noch von einer Synagoge in Kairo berichten, die noch nach dem alten erezisraelischen Brauch die Tora in über drei Jahren vollendete; das Feld war frei für eine allgemeine Einführung von Simchat Tora.
Damit kam Simchat Tora relativ spät zu den Festen hinzu, ist aber nicht weniger feierlich. Die am meisten mit Simchat Tora verbundene Zeremonie sind die Hakkafot, rituelle Prozessionen – ein ähnlicher Brauch wie an Hoschana Rabba. Zu Simchat Tora werden alle Torarollen aus dem Schrein genommen und in sieben Umkreisungen um die Bima getragen. Dies findet während des Abendg’ttesdienstes statt, aber auch vor den Toralesungen am Morgen.
Kinder Obwohl ein Kind unter 13 Jahren nicht zur Tora aufgerufen wird, hat sich zu Simchat Tora die Tradition des Kol HaNe’arim – »alle Kinder« – entwickelt. Alle Kinder einer Gemeinde werden gemeinsam zur Tora aufgerufen, sie erhalten eine gemeinsame Alija. Über die Gruppe wird ein Tallit gebreitet: Der Segen, geleitet von einem Erwachsenen, wird gesprochen.
Am Schluss der Lesung rezitiert die Gemeinde Jakobs Segen für seine Enkel Ephraim und Menasche, als speziellen Segen für die Kinder: Der Engel, der mich erlöset hat aus allem Übel, segne die Knaben, und genannt werde an ihnen mein Name und der Name meiner Väter Awraham und Jizchak, und sie mögen sich mehren zur Menge im Lande (1. Buch Mose 48, 16). Die Tora gemeinsam in einem Jahr zu vollenden, ist eine nennenswerte Leistung, die heiter gefeiert wird – heute auch mit »Bonbonwerfen« von der Bima, worüber sich vor allem die Kinder freuen. Allerdings kann jemand, der von dieser Leistung wenig weiß, Simchat Tora kaum verstehen.
1663 beschreibt das spätere Mitglied des britischen Parlaments, Samuel Pepys, in seinem Tagebuch einen Besuch in der spanisch-portugiesischen Synagoge in London, der leider ausgerechnet und für ihn unerwarteter Weise zu Simchat Tora stattfand. Pepys war entsetzt vom wilden Tanzen und Gesang (und von den hebräischen Texten, die er nicht verstehen konnte): Solche Unordnung, Gelächter, keine Aufmerksamkeit, nur Verwirrung im G’ttesdienst, die Beter wirkten wie Ungebildete ... Pepys war nicht in der Lage, die Schönheit von Simchat Tora zu erkennen. Welches andere Volk liebt sein Gesetz so wie wir, die wir mit der Tora tanzen?
Der Autor ist orthodoxer Rabbiner in Wien und Mitglied des Vorstandes der Europäischen Rabbinerkonferenz.