Beschalach

Botschaften der Hoffnung

Wurde früher gern in der Pharma-Werbung verwendet: die Geschichte, wie Israel durchs Schilfmeer zog (Illustration eines unbekannten französischen Zeichners) Foto: imago images/KHARBINE-TAPABOR

Es geht los: Die befreiten Sklaven machen sich auf die Reise in eine ungewisse Zukunft. Der Wochenabschnitt Beschalach lässt uns Anteil nehmen an den dramatischen Höhe- und Tiefpunkten zu Beginn des Auszugs aus Ägypten. Es scheint, dass der Akt der Befreiung schon kurz nach dem Aufbruch an ein Ende gekommen ist, denn die Israeliten stehen eingeklemmt zwischen den ägyptischen Verfolgern und dem Meer. Was nun: Tod in Krieg und Sklaverei oder Ertrinken in den Fluten des Meers?

Und dann geschieht das Wunder: Die Wasser spalten sich, stehen wie eine Mauer zur Rechten und zur Linken, während die Kinder Israels trockenen Fußes hindurchziehen. Anschließend brechen die Wellen über dem Pharao und seinem Heer zusammen. Am anderen Ufer angekommen, entfaltet sich ein Lobgesang von Mosche: »Ich will singen dem Ewigen, denn mit Hoheit hat er sich erhoben.« Das Volk stimmt ein, Mirjam nimmt eine Trommel, die Frauen ziehen ihr nach in Tanzreigen und singen mit.

Rettung Es ist ein unvergleichlicher Moment in der Geschichte Israels. Durch diese Rettungstat spüren alle Anwesenden unmittelbar die Gegenwart Gottes. Das Bewusstsein dieses einzigartigen Ereignisses bricht sich Bahn in kollektivem Dank und Gesang.

Der Bibelkommentator Benno Jacob (1862−1945) nennt das Lied am Meer »die wahre Nationalhymne Israels«. Zahlreiche Traditionen haben sich herausgebildet, um diesen triumphalen Moment lebendig zu halten.

Beim Schreiben der Torarolle werden die Worte des Liedes so versetzt geschrieben, dass sie »Halbziegel über Ziegel und Ziegel über Halbziegel« (Talmud, Megilla 16b) stehen, die Schrift also den optischen Eindruck eines Mauerwerks vermittelt. Während der Lesung im Gottesdienst steht die Gemeinde und trägt die Verse im Wechselgesang mit dem Toraleser vor.

Auch für den siebenten Tag Pessach ist das Schilfmeerlied als Toralesung bestimmt, und es ist Bestandteil der Psukej DeSimra im täglichen Morgengebet. Zudem werden die herausragenden Verse (2. Buch Mose 15, 11 und 18) als Teil des Segensspruchs über die Erlösungstaten Gottes abends und morgens nach dem Schma Jisrael gesagt.

Vertrauen Das Schilfmeerlied und die begleitende Rezitation des Lieds der Debora (Richter 4−5) als Haftara trugen diesem Schabbat die Bezeichnung »Schabbat Schira«, Schabbat des Gesanges, ein. Damit wollte die jüdische Tradition die Botschaft der Hoffnung, des Vertrauens auf den Beistand Gottes und der Dankbarkeit als zentrale Aussage des Wochenabschnitts festhalten.

Denn wir lesen auch, dass die Israeliten schon drei Tage nach dem überwältigenden Erlebnis des Durchzugs durch das Meer anfingen zu murren: Es gab nur ungenießbares bitteres Wasser zum Trinken.

Und wenige Tage später erinnern sie sich, dass Ägypten nicht nur Knechtschaft bedeutete, sondern auch »Fleischtöpfe und Brot in Fülle« (2. Buch Mose 16,3). In der Ungewissheit und Mangelsituation der Wüste wird die Versorgungssicherheit der Sklaverei zur Sehnsucht. Die überwältigende Erfahrung des Wunders wird überlagert durch die Schwierigkeiten des Alltags, und wir selbst erkennen uns in der Verzagtheit und auch im Murren der Israeliten eher wieder als in der Erfahrung des »Der Ewige wird für euch streiten« (14,14).

Alltag Wer die Vorstellung hat, Gottes Wirken manifestiere sich vor allem in solch außergewöhnlichen Ereignissen, wird enttäuscht sein, denn unser Alltag kann da nicht mithalten. Ein Wunder ist die Abweichung vom Normalzustand, setzt ihn außer Kraft – und bestätigt ihn zugleich, weil das Wunder uns als das Irreguläre entgegentritt.

Deshalb muss uns aber nicht Kleinmut oder Passivität packen. Die Parascha erzählt uns auch vom wundersamen Man, dem täglichen Brot während der 40-jährigen Wüstenwanderung – eine Tagesration Wunder also, das aufhörte, als nach dem Einzug ins verheißene Land die Möglichkeit bestand, sich selbst zu versorgen.

Auf die großen Wunder sollen wir nicht warten. Zwar schließen die Lobsprüche des Morgens mit der Vergegenwärtigung der Errettung am Schilfmeer, aber in den Segenssprüchen, die wir morgens als Erstes beim Aufstehen sagen sollen, ist die Rede von den »Nissim schebechol jom«, den täglichen Wundern, die uns zuteilwerden: dass der Hahn morgens verlässlich den Tag begrüßt; dass wir in Gottes Ebenbild geschaffen sind; dass wir die Augen öffnen und die Welt um uns wahrnehmen können; dass wir mit all dem Nötigsten für unser Leben gesegnet sind; dass wir unsere Schritte fest lenken können; dass die Müden gestärkt werden.

Die Botschaft des Schabbat Schira ist, dass wir jeden Tag aufs Neue große und kleine Wunder erleben, die uns Kraft und Zuversicht geben, gerade wenn der Alltag mit seinen Schwierigkeiten uns zu erdrücken droht.

Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde Hameln und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).


inhalt
Der Wochenabschnitt Beschalach erzählt, wie die Kinder Israels auf der Flucht vor dem Pharao und seinen Truppen trockenen Fußes das Schilfmeer durchquerten. Es öffnete sich vor ihnen und schloss sich hinter ihnen wieder, sodass die Männer des Pharaos in den Fluten ertranken. Danach beginnt der eigentliche Weg Israels durch die Wüste. Es wird berichtet, wie der Ewige die Menschen mit Manna und Wachteln versorgt und sie auffordert, Speise für den Schabbat beiseitezulegen. Dennoch fehlt es an Wasser, und die Kin­der Israels beschweren sich bei Mosche. Der lässt daraufhin Wasser aus einem Felsen hervorquellen.
2. Buch Mose 13,17 – 17,16

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