Leadership

Bescheiden, menschlich, gerecht

Nicht cool und mächtig, sondern »beherzt und tapfer« sollen Chefs sein. Foto: Getty

In den vergangenen Jahren wurde »Leadership« sehr populär, besonders im Bereich der Unternehmensführung. Ganze Studiengänge spezialisieren sich mittlerweile darauf. Dabei geht es vor allem darum, wie man die Beschäftigten zu Hochleistungen motiviert und die Firma prozessorientiert verändert, um das Unternehmen noch effizienter und lukrativer zu machen.

Das Judentum hat ein ganz anderes Bild von »Leadership«. Der Wochenabschnitt Wajelech zeigt uns gleich zwei große Beispiele für Führungspersönlichkeiten: Mosche und Jehoschua. Kurz vor seinem Tod gibt Mosche die Führungsrolle an Jehoschua weiter. Er sagt zum ganzen Volk Israel: »Jehoschua wird euer Anführer sein« (5. Buch Moses 31,3). Danach segnet er Jehoschua: »Sei beherzt und tapfer« (31,7). Doch was qualifizierte eigentlich Mosche oder Jehoschua für ihre Führungsaufgabe – was ist also wichtig für jüdisches Leadership?

Natürlich ist es einerseits die Berufung durch G’tt. Mosche wurde sogar unfreiwillig zum Anführer des jüdischen Volkes (2. Buch Moses 3,1 – 4,17). Und Jehoschua wird in unserem Wochenabschnitt von G’tt gesegnet (5. Buch Moses 31,23).

Doch die Berufung kommt nicht von ungefähr. Der Charakter ist entscheidend, also wie jemand ist und wie er andere Menschen behandelt. Mosche scheint auf den ersten Blick keine gute Wahl zu sein. Er ist kein guter Redner, er stottert und hat einen Menschen getötet (2. Buch Moses 2,12).

Gerechtigkeit Doch Mosche hat eben auch die Qualitäten und Eigenschaften, die aus jüdischer Sicht für einen Anführer entscheidend sind. Er hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Dreimal setzt er sich für Schwächere ein, die ungerecht behandelt werden: für einen israelitischen Sklaven, der von einem Ägypter gequält wird, für einen Israeliten, der von einem anderen Israeliten angegriffen wird, und für ein nichtjüdisches Mädchen, das von Hirten schlecht behandelt wird (2. Buch Moses 2, 11–17).

Im Laufe der Wüstenwanderung hat Mosche immer ein offenes Ohr für die Probleme der Israeliten und versucht zu helfen, wo er kann. Verfehlungen seitens des Volkes vergibt er. Dabei ist und bleibt Mosche stets bescheiden. Der Babylonische Talmud (Joma 22b) erklärt, dass dies eine der wichtigsten Eigenschaften von Gemeindevorstehern ist.

In unserem Wochenabschnitt übergibt er seine Führungsaufgaben an Jehoschua – auch das gelingt nur bei einem guten »Leader« reibungslos. Mosche hat Jehoschua seit Langem als eine Art Assistent auf diese Aufgabe vorbereitet. Und nun verkündet er den Wechsel an der Spitze vor dem ganzen Volk, damit jegliche Missverständnisse von vornherein ausgeräumt werden. Auch wenn laut Midrasch (Dewarim Rabba 9,4 und 9,9) Mosche nicht gerne geht, so tut er es doch. In seiner Weitsicht sucht er sich den am besten geeigneten Kandidaten aus – und nicht etwa jemanden aus seiner Familie oder einen, der ihm sonst nahesteht.

erbe Jehoschua tritt kein leichtes Erbe an. Kein anderer Prophet war wie Mosche, kein anderer hatte einen solch direkten Draht zu G’tt wie er. Und dennoch ist Jehoschua »beherzt und tapfer« und stellt sich der Verantwortung. Er wird in der Bibel und der rabbinischen Literatur als gewissenhafte, bescheidene und kluge Führungspersönlichkeit beschrieben. Trotz großen persönlichen Risikos sagt er als einer der Kundschafter, dass die Eroberung Kanaans möglich ist – gegen alle anderen. Gegen Amalek und später bei der Eroberung des Landes Israel zeigt er seine Qualitäten als Heerführer. Er erfüllt seine Aufgabe, bringt das Volk Israel sicher ins Gelobte Land und etabliert es dort.

Ich würde mir wünschen, dass es mehr Führungspersönlichkeiten wie Mosche und Jehoschua geben würde, ob in der Wirtschaft oder der Gesellschaft. Zu oft sind unsere Verantwortungsträger entweder zu zögerlich oder zu machtbesessen. Zu wenig wird auf die Menschen und ihre Bedürfnisse geachtet, und manchmal sind es nur materielle Erwägungen, nach denen entschieden wird. Potenzielle Nachfolger werden nicht immer gefördert, sondern sogar als Konkurrenten »entsorgt«. Was wir brauchen, ist ein »Leadership« nach den Kriterien von Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Bescheidenheit.

Der Autor ist Rabbiner an der Hauptsynagoge in Sofia.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Wajelech erzählt von Mosches letzten Tagen: Er erreicht sein 120. Lebensjahr und bereitet die Israeliten auf seinen baldigen Tod vor. Er verkündet, dass Jehoschua sein
Nachfolger sein wird. Die Parascha erwähnt eine weitere Mizwa: In jedem siebten Jahr sollen sich alle Männer, Frauen und Kinder im Tempel in Jerusalem versammeln, um aus dem Mund des Königs Teile der Tora zu hören. Mosche unterrichtet die Ältesten und die Priester von der Wichtigkeit der Toralesung und warnt sie erneut vor Götzendienst.
5. Buch Moses 31, 1-30

Israel

Rabbiner verhindert Anschlag auf Generalstaatsanwältin

Ein Mann hatte den früheren Oberrabbiner Jitzchak Josef um dessen religiöse Zustimmung zur »Tötung eines Aggressors« ersucht. Die Hintergründe

 26.08.2025 Aktualisiert

Re'eh

Freude, die verbindet

Die Tora zeigt am Beispiel der Feiertage, wie die Gemeinsamkeit gestärkt werden kann

von Vyacheslav Dobrovych  22.08.2025

Elul

Der erste Ton des Schofars

Zwischen Alltag und Heiligkeit: Der letzte Monat vor dem Neujahr lädt uns ein, das Wunderhafte im Gewöhnlichen zu entdecken

von Rabbiner Raphael Evers  22.08.2025

Talmudisches

Positiv auf andere schauen

Was unsere Weisen über den Schutz vor bösem Gerede und die Kraft positiver Gedanken lehren

von Diana Kaplan  21.08.2025

Naturphänomene

Entzauberung des Gewitters

Blitz und Donnergrollen wurden lange als Zorn der Götter gedeutet. Doch die Tora beendete diesen Mythos

von Rabbiner Igor Mendel Itkin  21.08.2025

Fulda

Vor 80 Jahren - Schuldbekenntnis der Bischöfe nach dem Krieg

Sie stand im Zenit ihres Ansehens. Nach Kriegsende galt die katholische Kirche in Deutschland als moralische Macht. Vor 80 Jahren formulierten die Bischöfe ein Schuldbekenntnis, das Raum für Interpretationen ließ

von Christoph Arens  18.08.2025

Ekew

Nach dem Essen

Wie uns das Tischgebet lehrt, bewusster und hoffnungsvoller durchs Leben zu gehen

von Avi Frenkel  15.08.2025

Talmudisches

Granatapfel

Was unsere Weisen über das Sinnbild der Fülle lehren

von Chajm Guski  15.08.2025

Geschichte

Quellen des Humanismus

Wie das Gʼttesbild der jüdischen Mystik die Renaissance beeinflusste

von Vyacheslav Dobrovych  14.08.2025