Lag BaOmer gleicht einem Palimpsest –einem alten Manuskript, das wiederholt überschrieben und bearbeitet wurde. Jedes Zeitalter hat eine weitere Schicht hinzugefügt, die erste geriet in Vergessenheit. Die jüngste Schicht ist leider das schreckliche Unglück im jüdischen Jahr 5781, am 30. April 2021. Etwa 100.000 Menschen strömten an diesem Tag nach Meron, um dort Lag BaOmer zu feiern. Eine Massenpanik brach aus. 45 Männer und Jungen kamen ums Leben. Ihr Andenken ist bis heute verknüpft mit Lag BaOmer.
Die älteste Erwähnung von Lag BaOmer stammt aus dem Frankreich des 12. Jahrhunderts. Jitzchak ben Durbal (gestorben 1175 in Nordfrankreich) notierte im Machsor Vitry, dass Purim und Lag BaOmer stets auf den gleichen Wochentag fallen. Dann begegnen wir Lag BaOmer im Sefer HaManhig von Rabbi Abraham ben Nathan haJarchi, das um 1204 in Toledo entstand. Dort (Band 2, Seite 538, Hilchot Erusin weNissuin) nennt er den 33. Tag der Omer-Zählung – auf Hebräisch geschrieben: »Lag BaOmer« – als Zeitpunkt, ab dem in Frankreich und der Provence wieder geheiratet wird.
EHEN Die gesamten 49 Tage der Omer-Zeit galten eigentlich als Zeit, in der keine Ehen geschlossen werden sollten. Rabbi Menachem ben Schlomo Meiri (1249–1316), der ebenfalls aus der Provence stammte, schrieb in seinem Kommentar zum Talmudtraktat Jewamot (62b), Lag BaOmer sei ein besonderer Tag. An diesem hörte »nach einer Überlieferung der Geonim die Plage auf«.
Andere Quellen aus ähnlicher Zeit, aber aus anderen Orten kannten den Tag nicht. Es ist daher anzunehmen, dass der Brauch, Lag BaOmer als besonderen Tag zu betrachten, hier seine Wurzeln hat.
Rabbi Meiri bezog sich vermutlich auf eine besondere Plage: Während der Omer-Zeit starben rund 24.000 Schüler von Rabbi Akiwa. Der Überlieferung zufolge raffte sie eine Krankheit dahin, weil sie sich »gegenseitig nicht respektierten«, wie der Talmud schreibt (Jewamot 62b).
Da Rabbi Akiwa zu den Unterstützern Bar Kochbas gehörte, kann damit auch der Kampf gegen die Römer gemeint sein. 24.000 Seelen und potenzielle Lehrer wurden damals zerstört. Ihre »Feuer« wurden ausgelöscht. Die Jahrzeit eines Schülers von Rabbi Akiwa, Schimon Bar Jochai, fällt auf Lag BaOmer. Er lebte im zweiten Jahrhundert und starb in Meron. Im Talmud heißt es, dass er sich zwölf Jahre lang in einer Höhle verstecken musste. Dort lernte er ausschließlich Tora. Er gilt auch als Verfasser des Sohars, des bedeutendsten Werkes der Kabbala.
Bevor er starb, sagte Rabbi Schimon zu seinen Schülern, dass der Tag seines Todes ein Tag der Freude sein soll. Das ist eine weitere »Schicht«: Lag BaOmer als ein Fest zum Gedenken an den Tod von Rabbi Schimon Bar Jochai. Aus diesem Grund kommen jährlich Hunderttausende Menschen nach Meron. Weil er das »himmlische Licht« zu seinen Schülern gebracht habe, entzünde man heute Feuer im ganzen Land, heißt es.
BAR-KOCHBA-AUFSTAND Diese könnten aber auch für die Signalfeuer des Bar-Kochba-Aufstandes stehen. Das wäre eine »nationale« Schicht des Tages. Heute könnten die Feuer auch für die Masse der Jahrzeitkerzen stehen, die man für alle ausgelöschten Seelen, die sich mit der Tora beschäftigen wollten und ermordet wurden, entzünden müsste.
Und die Freude? Auf die Verfolgung, auf den Verlust und die Unfreiheit folgten wieder Phasen der Gelehrsamkeit, der Freiheit und der staatlichen Selbstständigkeit. In der sonst traurigen Zeit der Omer-Zählung eröffnet Lag BaOmer eine kleine Aussicht auf Licht. Ein Großteil der Zählung liegt hinter uns. Schawuot liegt vor uns.