Chanukka

Aufsteigend oder absteigend?

2013: Chanukkaleuchter von Chabad Lubawiscth vor dem Weißen Haus in Washington Foto: imago/ZUMA Press

Der letzte Lubawitscher Rebbe, Rabbiner Menachem Mendel Schneerson, war es, der auf die Idee kam, prominente Nichtjuden an der Zeremonie des Anzündens der Chanukkalichter zu beteiligen. Deshalb haben die Emissäre seiner Chabad-Bewegung im Jahr 1978 auf dem Rasen des Weißen Hauses in Washington eine große Chanukkia aufgestellt. Dem damaligen Präsidenten, Jimmy Carter, wurde die Ehre zuteil, den Schamasch anzuzünden.

Der Emissär des Lubawitscher Rebben, Rabbiner Abraham Shemtov, sagte laut die Segenssprüche und zündete dann vier Kerzen an, da gerade der vierte Abend von Chanukka war. Der amerikanische Präsident protestierte jedoch: »Jetzt ist erst die Hälfte der Chanukkia beleuchtet!« Und er bestand darauf, dass man auch noch die übrigen vier Kerzen anzünden sollte. So geschah es, dass am vierten Tag von Chanukka vor dem Weißen Haus acht Chanukkalichter brannten!

Der amerikanische Präsident bestand darauf, dass man am vierten Chanukkaabend auch noch die übrigen vier Kerzen anzünden sollte.

 

Der Einwand des amerikanischen Präsidenten erscheint auf den ersten Blick durchaus berechtigt: Warum zündet man nicht an jedem Tag acht Kerzen an? Eine solche Wiederholung würde einprägsam an die Dauer des Ölwunders erinnern. Eine Antwort auf Jimmy Carters Frage finden wir im Talmud (Schabbat 21b), und zwar in einer Barajta, welche die drei Stufen beim Anzünden der Chanukkalichter darlegt: »Die Rabbanan lehrten: ein Licht der Chanukkalampe für sich und seine ganze Familie.

kontroverse Die Pflichtbeflissenen (hebräisch: Mehadrin) zünden für jede einzelne Person je ein Licht. Und die hervorragend Pflichtbeflissenen (hebräisch: Mehadrin min Hamehadrin) zünden nach Ansicht der Schule von Schammai am ersten Tag acht Lichter und an den folgenden Tagen je eines weniger, und nach Ansicht der Schule von Hillel am ersten Tag ein Licht und an den folgenden Tagen je eines mehr.« Die Kontroverse zwischen den zwei tannaitischen Schulen bedarf einer Erläuterung. Wir wollen sowohl die Ansicht von Bet Scham­mai als auch die Auffassung von Bet Hillel verstehen.

Es ist bemerkenswert, dass Amoräer zwei verschiedene Erklärungen für die unterschiedlichen Praxisformen gegeben haben: »Ein Amoräer sagt, der Grund der Schule Schammais sei: Die Zahl der Lichter entspreche der Zahl der folgenden Tage, und der Grund der Schule Hillels sei: Die Zahl der Lichter entspreche der Zahl der verstrichenen Tage. Und der andere Amoräer sagt, der Grund der Schule Scham­mais sei: gleich den Stieren am Sukkotfest, und der Grund der Schule Hillels sei: Beim Heiligen erfolge es aufsteigend und nicht absteigend.«

Die Ausführungen der beiden Amoräer verdeutlichen den Streitpunkt zwischen den zwei Lehrhäusern. Ihre Meinungsverschiedenheit dreht sich um die Frage, wie man das Ölwunder am besten veranschaulichen kann. Hillels Schule meint, dies erfolge, indem man jeden Tag ein Licht mehr anzündet, denn jeden Tag wurde das Ölwunder größer und offensichtlicher: Acht Tage brannte eine Ölmenge, die unter normalen Umständen nur für einen Tag gereicht hätte.

Laut dem Gelehrten Hillel wird jeden Tag ein Licht mehr angezündet. Die Schüler von Schammai tun es genau umgekehrt.

Hingegen wollen Schammais Schüler den Prozess des Wundergeschehens hervorheben: Am ersten Tag reichte das Wunderöl, wie wir nachträglich wissen, für insgesamt acht Tage; am zweiten Tag war schon weniger Öl vorhanden – daher nur noch sieben Lichter. Es kommt also auf die Betrachtungsweise an. Den Ablauf des Ölwunders kann man sowohl wie Bet Schammai als auch wie Bet Hillel darstellen! Für die Ansicht von Bet Hillel, der wir heute folgen, spricht das Prinzip, dass man beim Heiligen immer aufsteigen und nicht absteigen soll.

Prinzip Dieses wichtige Prinzip kann und will die Schule von Schammai natürlich nicht bestreiten. Schammais Schule stützt sich auf einen Präzedenzfall in der Tora: Die Zahl der Stiere, die an Sukkot darzubringen waren, verminderte sich mit jedem Tag des Festes – 13, zwölf, elf (4. Buch Mose 29,13ff). Bet Schammai beruft sich auf die Opfer des Laubhüttenfestes, um die Entwicklung des historischen Ölwunders in der Gegenwart veranschaulichen zu können.

Jimmy Carters Staunen, dass Rabbiner Shemtov nur vier Lichter der Chanukkia entzündet hat, rührt wohl daher, dass er den Sinn der symbolischen Handlung nicht kannte. Es genügt eben nicht, an einem der acht Tage Chanukkalichter anzuzünden; man muss vielmehr die Entwicklung von Tag zu Tag genau beachten. Wer Bet Hillel folgend an acht Tagen aufsteigend Lichter anzündet, erinnert sich und seine Umgebung an das historische Ölwunder und gleichzeitig auch an das für das Judentum charakteristische Prinzip des Aufsteigens.

Spurensuche

Von Moses zu Moses zu Reuven

Vor 75 Jahren starb Rabbiner Reuven Agushewitz. Er verfasste religionsphilosophische Abhandlungen mit einer Intensität, die an Maimonides und Moses Mendelssohn erinnert. Wer war dieser Mann?

von Richard Blättel  13.11.2025

Wajera

Awrahams Vermächtnis

Was wir vom biblischen Patriarchen über die Heiligkeit des Lebens lernen können

von Rabbiner Avraham Radbil  07.11.2025

Talmudisches

Rabbi Meirs Befürchtung

Über die falsche Annahme, die Brachot, die vor und nach der Lesung gesprochen werden, stünden im Text der Tora

von Yizhak Ahren  07.11.2025

Festakt

Ministerin Prien: Frauen in religiösen Ämtern sind wichtiges Vorbild

In Berlin sind zwei neue Rabbinerinnen ordiniert worden

 06.11.2025

Chassidismus

Im Sturm der Datenflut

Was schon Rabbi Nachman über Künstliche Intelligenz wusste

von Rabbiner David Kraus  06.11.2025

Rezension

Orthodoxer Rebell

Sein Denken war so radikal, dass seine Werke nur zensiert erschienen: Ein neues Buch widmet sich den Thesen von Rabbiner Kook

von Rabbiner Igor Mendel  06.11.2025

Potsdam

Abraham-Geiger-Kolleg ordiniert zwei Rabbinerinnen

In Deutschlands größter Synagoge Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg werden an diesem Donnerstag zwei Rabbinerinnen ordiniert. Zu der Feier wird auch Polit-Prominenz erwartet

 05.11.2025

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025