Vorbild

Aufs Engste verbunden

Warum Avraham beim Bewirten der Gäste immer auch an G’tt dachte

von Rabbiner Jan Guggenheim  30.10.2012 07:41 Uhr

Ideal: Wenn der Gast auf der Matte steht, freuen sich die Hausherren. Foto: Thinkstock

Warum Avraham beim Bewirten der Gäste immer auch an G’tt dachte

von Rabbiner Jan Guggenheim  30.10.2012 07:41 Uhr

In vielen Gemeinden ist es üblich, dass man zu den feierlichen Schabbatmahlzeiten Gäste einlädt. So werden zum Beispiel auch die Studenten des Rabbinerseminars zu Berlin regelmäßig von den Familien, die im Umkreis wohnen, eingeladen. Viele sind sehr großzügige Gastgeber. Ich habe zum Beispiel von einem Ehepaar gehört, das seit der Hochzeit zu jeder Mahlzeit am Schabbat Gäste hat.

Aber woher kommt das? Warum sorgen sich Menschen, die selbst viel zu tun haben, um das Wohl anderer, denen gegenüber sie keine direkten Verpflichtungen haben?

Es gibt eine Passage im Talmud, die wir jeden Tag im Morgengebet zitieren: »Von den folgenden Dingen genießt der Mensch die Früchte bereits in dieser Welt, der vollkommene Lohn bleibt ihm aufbewahrt für die zukünftige Welt.« Eine davon ist Hachnassat Orchim, die Bewirtung von Gästen, eine große Mizwa.

grundsatz Unsere Weisen sagen: »Es ist eine wichtigere Angelegenheit, Gäste einzuladen als der g’ttlichen Gegenwart zu begegnen.« Die Gelehrten fanden diesen Grundsatz im Wochenabschnitt Wajera. Am Anfang der Parascha wird berichtet, was sich am dritten Tag nach der Brit Mila von Avraham Avinu ereignete: »G’tt offenbarte sich ihm (Avraham).«

Raschi (1040–1105) bringt dazu einen Midrasch: »Sagt Rabbi Chama bar Chanina: Es war der dritte Tag nach seiner Beschneidung, und der Ewige, gelobt sei Er, ist gekommen, um nach seinem Wohl zu fragen.« Avraham saß am Eingang seines Hauses, um zu sehen, ob jemand vorbeigeht. Er hielt Ausschau nach möglichen Gästen. G’tt hatte diesen Tag heißer gemacht als sonst, um Avraham davon abzuhalten, draußen zu sitzen. Denn er sollte sich von seiner Beschneidung erholen. Avraham saß jedoch trotz der Hitze vor seinem Zelt. Da kommen drei Wanderer, und Avraham lädt sie ein, beeilt sich, rennt und bringt eigenhändig drei Kühe vom Feld. Was hat es damit auf sich?

Wanderer Wir haben am Anfang erwähnt, dass G’tt sich Avraham offenbart hat. G’tt ist also bei ihm, und er kümmert sich um drei Wanderer? Aus dieser Geschichte lernen die Weisen, dass es eine größere Angelegenheit ist, Gäste zu bewirten als der g’ttlichen Gegenwart zu begegnen. Jetzt können wir etwas besser verstehen, wie wichtig die Mizwa ist, Gäste einzuladen.

Unsere Weisen fragen: Wir haben von Avraham Awinu gelernt, dass man die g’ttliche Gegenwart wegen Gästen ein wenig zur Seite legt. Aber woher wusste Avraham, dass dieses Verhalten richtig war? Im Buch Tallelei Orot wird von Rabbi Jaakow Schimschon Mischipivka eine etwas komplizierte Antwort darauf gegeben.

Betrachten wir das ganze einmal umgekehrt. Wenn wirklich das Begegnen der g’ttlichen Gegenwart wichtiger wäre als Gäste einzuladen, so hätte Avraham nicht während G’ttes Anwesenheit vor seinem Zelt gesessen, um nach möglichen Gästen Ausschau zu halten. G’tt hätte auch an diesem Tag keine besondere Hitzewelle schaffen müssen, um Avraham davon abzuhalten, sich so kurz nach seiner Beschneidung als Gastgeber zu verausgaben. G’tt hätte vielmehr darauf vertrauen können, dass Avraham seine Aufmerksamkeit nicht in G’ttes Gegenwart den Wanderern schenkt. Die besondere Hitze war also für Avraham Avinu ein Zeichen. Nur aus diesem Grund wusste er, dass er Gäste einladen darf.

Nicht nur das Einladen von Gästen haben wir von Avraham Avinu geerbt. Von ihm lernen wir auch, wie wir uns um das Wohl anderer kümmern sollten. Die Weisen sagen, dass Avrahams Haus von allen vier Seiten offen war. Warum? Wenn ein Gast sich von hinten dem Zelt nähert, muss er sich nicht weiter anstrengen und um das Zelt herum zu dessen Eingang laufen. Stattdessen kann der Gast direkt ins Zelt gehen.

gerechte In der Parascha Wajera lesen wir auch von der Vernichtung der beiden Städte Sdom und Amora. Avraham versuchte, G’tt davon zu überzeugen, dass die beiden Städte nicht zerstört werden sollten. Er sprach zu G’tt: »Wirst du wohl den Unschuldigen mit dem Schuldigen hinraffen? Vielleicht sind 50 Gerechte in der Stadt, wirst du sie hinraffen und nicht vielmehr dem ganzen Ort vergeben um der 50 Gerechten willen, die darin sind?«

Soll das etwa heißen, dass, wenn wir Gäste haben, G’ttes Gegenwart nicht unter uns ist? Unsere Weisen haben dafür eine Lösung, sie verweisen auf die Sprüche der Väter (Pirkej Avot 3,3): Rabbi Chananja, Sohn der Teradjon, sagt: Wenn zwei beisammen sitzen und nicht von der Tora sprechen, so ist dies ein Sitz von Spöttern, wie es heißt (Tehilim 1,1): »im Sitz der Spötter saß er nicht«. Wenn aber zwei beisammen sitzen und sprechen von der Tora, so weilt die Gegenwart des Ewigen bei ihnen (sch’china schruja bejnejhem).

Warum laden wir Gäste ein? Weil wir sie mögen und ihnen Gutes tun wollen? Wir können sie auch einladen und im Sinn haben, damit eine große Mizwa zu erfüllen. Würde es uns stören, wenn wir dann auch G’tt unter uns haben? Aber verlässt uns die Sch’china, die g’ttliche Gegenwart, sobald Gäste kommen? Das hängt ganz von uns ab.

Im Buch Tif’eret Schimschon gibt es eine Erklärung. Wir lesen dort, dass sehr oft einige Einzelheiten übersehen werden. Als die drei Gäste kamen, betete Avraham: »Herr, wenn ich Gnade in Deinen Augen gefunden haben sollte, so gehe doch nicht an Deinem Knecht vorüber.« Obwohl sich Avrahams Körper vollkommen mit der Mizwa der Gastfreundlichkeit beschäftigte, waren seine Gedanken und sein Herz doch immer noch mit G’tt.

Später in der Parascha, als die drei Gäste nach Sdom weiterziehen, lesen wir: »... und Avraham aber blieb vor dem Ewigen stehen«. Raschi sagt, dass wir darunter verstehen müssen, dass G’tt immer noch mit Avraham steht und ihn nicht verlassen hat.

Beide Erklärungen sind voneinander abhängig. Avraham Avinu hat sich gedanklich nicht von G’tt abgewendet, deshalb hat auch G’tt ihn nicht verlassen. Es Avraham nachzutun, ist nicht schwer; es sind nur zwei Gedanken: Wenn man Gäste einlädt, erfüllt man eine Mizwa. Und man sollte dabei auch an Hashem denken.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Wajera erzählt davon, wie Avraham von drei göttlichen Boten Besuch bekommt. Sie teilen ihm mit, dass Sara einen Sohn zur Welt bringen wird. Avraham versucht, den Ewigen von seinem Plan abzubringen, die Städte Sdom und Amora zu zerstören. Lot und seine beiden Töchter entgehen der Zerstörung, seine Frau jedoch erstarrt zu einer Salzsäule. Später zeugt der betrunkene Lot mit seinen Töchtern Kinder. Avimelech, der König zu Gerar, nimmt Sara zur Frau, nachdem Avraham behauptet hat, sie sei seine Schwester. Dem alten Ehepaar Avraham und Sara wird ein Sohn geboren: Jitzchak. Hagar und ihr Sohn Jischmael werden fortgeschickt. Am Ende der Parascha prüft der Ewige Avraham: Er befiehlt ihm, Jitzchak zu opfern.
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