Kol Nidre

Aufgelöste Schwüre

Studenten und Rabbiner David Baron vor dem Kol-Nidre-Gebet im Beverly Hills Temple of the Arts in Kalifornien (2018) Foto: Getty Images

Über keinen der zahlreichen Texte, die in der Synagoge rezitiert werden, sind so viele Artikel geschrieben worden wie über die Deklaration »Kol Nidre« (aramäisch: »Alle Gelübde«).

Dieser Minhag (hebräisch für: Brauch), dass der Vorbeter am Vorabend von Jom Kippur den Text des Kol Nidre feierlich vorträgt, wird schon seit mehr als 1000 Jahren in fast allen Gemeinden praktiziert.

Allerdings gab es um diesen Minhag von Anfang an Kontroversen. Im 19. Jahrhundert versuchte das Reformjudentum, das Kol Nidre durch einen deutschen Choral zu ersetzen oder es sogar abzuschaffen.

Im 20. Jahrhundert haben Historiker und Sozialwissenschaftler mehrere Theorien zur Entstehung des Kol Nidre entwickelt, die von Kritikern als gänzlich haltlos abgelehnt worden sind.

Dämonen So hat der israelische Sozialanthropologe Shlomo Deshen die These vertreten, das Kol Nidre sei ursprünglich zur Vertreibung von Dämonen gesagt worden. Doch liest man den keineswegs esoterischen Text des Kol Nidre, so erscheint Deshens Vermutung als der Fantasie entsprungen und keineswegs einleuchtend.

In der Übersetzung des deutsch-französischen Rabbiners Elie Munk (1900–1981) lautet die vom Kantor vorgetragene Erklärung: »Alle Gelübde, Entsagungen, Bannsprüche, Umschreibungen und Nebenbezeichnungen derselben, Strafen und Schwüre, die wir geloben, schwören, als Bann aussprechen und als Verbot uns auferlegen, von diesem Versöhnungstage bis zum nächsten Versöhnungstage, der uns zu Gutem kommen möge, sie alle bereue ich, sie alle seien aufgelöst, erlassen, aufgehoben, ungültig und ohne Bestand: Unsere Gelübde seien keine Gelübde, unsere Schwüre keine Schwüre.«

In der Nazizeit lehrte ein Kinderbuch: »Trau keinem Jud bei seinem Eid!«

Anzumerken ist, dass sich der ursprüngliche Kol-Nidre-Text auf alle Gelübde (hebräisch: Nedarim) des vergangenen Jahres bezieht. Die Umwandlung in eine Aussage über die Zukunft (»von diesem Versöhnungstage bis zum nächsten«) hat Rabbiner Jakob Tam, ein Enkel Raschis, im 12. Jahrhundert durchgesetzt.

Die Änderung erschien diesem Halachisten deshalb notwendig, weil die Auflösung bereits ausgesprochener Nedarim in der Synagoge halachisch gesehen äußerst problematisch ist. Nach rabbinischer Auffassung kann man in bestimmten Fällen Nedarim nachträglich aufheben, aber ein Gerichtskollegium muss den Einzelfall prüfen.

Richterkollegium Es gibt den Minhag, bereits am Vortag von Rosch Haschana nach dem Morgengebet ein Richterkollegium von drei erwachsenen Männern um eine Auflösung der gemachten Nedarim zu bitten. Den Wortlaut dieser Bitte findet man zum Beispiel im Machsor »Schma Kolenu« zu Rosch Haschana.

Doch wenn das Kol Nidre in der früheren Fassung genau dasselbe Ziel erreichen wollte, dann drängt sich die Frage auf: Warum beschäftigt man sich nach wenigen Tagen erneut mit den Nedarim?

Rabbiner Elie Munk meint, die Bitte um Auflösung der Nedarim werde bereits vor den Neujahrstagen gesprochen, weil »die Eifrigen die Mizwot frühzeitig wahrnehmen« und nicht erst bis zur Kol-Nidre-Nacht warten wollen. Doch ist diese Erklärung der Doppelung wirklich überzeugend?

Klagen Bedauerlicherweise ist die Kol-Nidre-Deklaration nicht selten missverstanden worden. Sie war mehrmals Anlass zu antijüdischen Klagen; Antisemiten behaupteten, Eide, die Juden vor Gericht ablegen, seien deshalb völlig wertlos, weil der Jude seinen Schwur am Vorabend von Jom Kippur für nichtig erkläre. Diese feindselige Argumentation beruht auf einem schlichten Irrtum.

Die Nedarim und Schwüre, von denen im Kol Nidre die Rede ist, sind weder solche Versprechen, in denen die Wahrheit oder Unwahrheit von irgendetwas beteuert wird, noch solche, die man einem anderen Menschen gegeben hat, sondern nur solche, die der Jude allein Gott gegenüber zu verantworten hat (zum Beispiel das Gelübde, keine Weintrauben zu essen).

Dieser Sachverhalt ist zwar oftmals dargelegt worden, aber die böswilligen Verleumdungen sind nicht aus der Welt verschwunden. In der Nazizeit lehrte ein Kinderbuch: »Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid!«

Kontroversen Wer die Geschichte der Kontroversen um das Kol Nidre kennt, mag die Frage stellen, warum diese Deklaration trotz aller Angriffe von Christen und Juden bestehen blieb. Auch wüsste man gerne, welche Gründe dem Kol Nidre zu seiner hervorragenden Position verholfen haben.

Rabbiner Munk meint: »Es scheint, dass das Kol Nidre seine Erhaltung und angesehene Stellung zunächst der Gewissenhaftigkeit verdankt, mit der angesichts des nahenden Versöhnungstages die Heiligkeit eines Gott gegenüber gesprochenen Wortes vor der leisesten Entweihung beschützt werden soll. Diese äußerste Gewissenhaft scheint selbst um den Preis der schlimmen Verleumdungen, zu dem dieses Gebet Anlass gegeben hat, nicht zu teuer erkauft.«

Niemand wird die Wichtigkeit der Einhaltung von Nedarim bestreiten. Doch mag man sich wundern, warum ausgerechnet dieses Thema an den Anfang des Jom-Kippur-Gottesdienstes gestellt wurde. In seinem Buch Ceremony and Celebration (Jerusalem 2017) hat der frühere britische Oberrabbiner Jonathan Sacks eine originelle Deutung des Kol Nidre vorgelegt, die uns die Bedeutung der Deklaration in einem neuen Licht sehen lässt.

An Jom Kippur ist die Synagoge laut Rabbiner Sacks gleichzeitig Beit Tefila und Beit Din.

Seiner Auffassung nach signalisiert das Kol Nidre der versammelten Gemeinde, dass sie sich am Jom Kippur nicht nur in einem Gebetsraum befindet, sondern auch in einem Gerichtssaal. Die Synagoge ist nun zugleich Beit Tefila und Beit Din: Gott prüft die Taten jedes Menschen und besiegelt am Ende des heiligen Tages das Urteil.

Umkehr Nach Ansicht von Rabbiner Sacks hat man mit der Aufhebung der Gelübde ein solches Thema für den Anfang von Jom Kippur gewählt, das einen wichtigen Punkt zu erhellen vermag. Am Jom Kippur, dem letzten der Zehn Tage der Teschuwa, steht natürlich Umkehr auf dem Programm.

Mehrmals sagen die Beter ein Sündenbekenntnis. Wie aber kann Teschuwa die Verfehlungen, die wir begangen haben, aufheben? Was passiert ist, können wir nicht ungeschehen machen! Das Kol Nidre lehrt uns: Reue ermöglicht durchaus die Aufhebung eines Gelübdes.

Nach Untersuchung des Falles stellen die Richter fest, dass seinerzeit die volle Absicht fehlte und das Gelübde daher nicht gültig sei. Die Möglichkeit der Auflösung von Nedarim ist ein Prototyp oder Präzedenzfall für die Wirkungsweise von Teschuwa.

Absicht Bereuen wir eine begangene Sünde, lässt sich sagen: Hätten wir damals gewusst, was wir jetzt wissen, dann wäre es nicht zur Tat gekommen. Die Verfehlung ist also rückwirkend anders zu bewerten. Dies hatte der Amoräer Resch Lakisch im Sinn, als er lehrte, dass Teschuwa absichtlich begangene Sünden in unabsichtliche Sünden verwandeln kann (Joma 86b).

Nach diesen Ausführungen dürfte verständlich sein, warum Vorbeter und Gemeinde unmittelbar nach der Kol-Nidre-Deklaration folgenden Toravers sprechen: »Und es sei verziehen der ganzen Gemeinde der Kinder Israels und dem Fremden, der unter ihnen weilt; denn vom ganzen Volk geschah es aus Irrtum« (4. Buch Mose 15,26).

Der Autor ist Psychologe und lebt in Jerusalem.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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