Statistik

Alle sind gemeint

Die Installation »Contemporary Jewish Faces« im Tel Aviver Diasporamuseum Foto: imago/ecomedia/robert fishman

Bamidbar – die Worte »in der Wüste« im ersten Satz des vierten Buches Mose geben diesem Buch wie auch dem Wochenabschnitt seinen Namen. In vielen Übersetzungen heißt das Buch »Numeri« – »Zahlen«. Diese Namensgebung ist keine Erfindung der Übersetzer. Schon im Talmud (Joma 68b) wird das vierte Buch als »Chumasch HaPekudim«, als »Buch der Musterungen« im Sinne der Zählungen, sprich der Zahlen bezeichnet.

Die erste Musterung der Israeliten findet sich im 2. Buch Mose 30, 11–16 und 38, 25–26. Hier geht es darum, dass die durch die Musterung gegangenen Israeliten, die 20 Jahre und älter sind, jeweils einen halben Schekel für den Unterhalt des mobilen Stiftszelts geben. Wegen der im 2. Buch Samuel 24,1 von König David ohne besonderen Anlass eigenmächtig verfügten Zählung kam es zu einem Gottesgericht, das David schließlich mit einem großen Opfermahl beenden konnte.

In unserem Wochenabschnitt heißt es im Text gleich im zweiten Vers: »Nehmt die Summe der ganzen Gemeinde der Israeliten.« Das Kernwort, um das die Übersetzer ringen, ist »Ss’u«, das zwei Bedeutungen haben kann: »Nehmt auf!« (im Sinne von »Erfasst!«) oder »Erhebt!«.

Letztere Bedeutung kennen wir aus Psalm 24,7: »Erhebt, ihr Tore, eure Häupter, und ragt empor, ewige Pforten, dass einziehe der König der Ehre.« Dies wurde im 19. Jahrhundert von Louis Lewandow­ski für die liberalen Synagogen als Gemeindegesang nach dem letzten Schofarklang im Mussafgebet an Rosch Haschana vertont.

WERTSCHÄTZUNG Wenn Martin Buber übersetzt: »Erhebt die Hauptmacht aller Gemeinschaft der Söhne Israels«, kommt er der doppelten Bedeutung von »Ss’u« sehr nah, denn es geht nicht nur ums Zählen, sondern jeder Einzelne soll sich »erheben« und »wertgeschätzt« fühlen.

Dass hier im biblischen Text nicht von der Wurzel des hebräischen Verbs »pakad« (mustern), sondern vom Wort »Ss’u« (erheben) ausgegangen wird, heißt, dass gezählt werden soll. Aber diese Zählung war keine einfache, sondern sie war eine »Erhebung«: Die Schicksalsgemeinschaft der aus Mizrajim in Richtung Kanaan, des Gelobten Landes, Hinaufgeführten sollte (wie es die Wortbedeutung in Psalm 24,7 nahelegt) »erhoben« werden.

Wir fragen uns, wer dazugehörte. »Die Israeliten reisten von Ramses nach Sukkot. 600.000 Personen zu Fuß ohne Kinder. Es zog auch eine Menge allerlei Leute mit ihnen hinauf« (2. Buch Mose 12,37).

Sind auch jene, die die Gunst der Stunde nutzten und mit den Israeliten zogen, bei dieser Erhebung mit zu den Israeliten zu zählen? Wird die »Menge allerlei Leute« dazugezählt, weil sie trockenen Fußes mit den 600.000 Israeliten durchs Schilfmeer zog oder weil sie die »Schira«, Mosches Danklied nach dem Zug durchs Schilfmeer, mitsang?

Wer zu »kol Adat Bnej Jisrael«, der ganzen Gemeinde der Israeliten, dazugehören will, muss sich zählen lassen, seinen Namen nennen und – wie wir am Schabbat Schekalim vor Pessach gelesen haben – zahlt einen halben Schekel Kopfsteuer. Spätestens mit dieser Erhebung sind alle, die mit den Israeliten mitzogen und dabeiblieben, Teil der »Eda«, der Gemeinde, geworden.

Die Gemeinde ist es, die Gott bezeugt. Nicht umsonst ist in der Tora der letzte Buchstabe des ersten Wortes und der letzte Buchstabe des letzten Wortes des Schma Jisrael jeweils durch einen Kapitalbuchstaben in der Schrift hervorgehoben. Liest man diese beiden Buchstaben zusammen, so ergibt sich das Wort ED – deutsch: »Zeuge«. Indem man das Schma Jisrael sagt – »Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig« –, bezeugt der Sprecher, zur »Eda« zu gehören, zur Gemeinde, die sich zum einzigen Gott bekennt.

Dies gilt auch heute: Wie viele fliehen vor einer autoritären Herrschaft in ein anderes Land! Und wie wenige bekennen sich dann zu der sie aufnehmenden Gesellschaft sowie deren Normen und belegen es mit ihrem Namen und ihrem Geburtstag, die im Pass dokumentiert sind.

Dies gilt auch für die »Jews by Choice«, Menschen, denen durch eine Prüfung vor einem Bet Din bestätigt wurde, dass sie ein jüdisches Leben führen. Der Ausstellungsrundgang im Tel Aviver Diasporamuseum führt den Besucher zu einer großen Wand mit »Contemporary Jewish Faces« – Gesichtern von Juden: Juden mit ganz dunkler Hautfarbe, Juden aus Indien oder dem Jemen, blonden Juden aus Westeuropa und solchen mit Strejmel und Pejes aus einem Schtetl. Dazu heißt es im Katalog, dies sei das Ergebnis von Einheirat und Konversionen. Unser Wochenabschnitt würde ergänzend sagen, »erhoben zu werden« gehört genauso dazu, wie sich zum Judentum zu bekennen.

BEITRAG Man könnte fragen: Wozu diese Zählung? Gott braucht den Zensus nicht, er kennt Seine Kinder. Aber Mosche und später Jehoschua ben Nun mussten wissen, wer mit ihnen zieht. Auch wir untereinander erkennen uns daran, dass jeder »seinen« halben Schekel gibt – heute ist das unser Mitgliedsbeitrag für die örtliche jüdische Gemeinde.

So ist der Abschnitt »Bamidbar« zu verstehen: Auch in der Wüste braucht es die Gemeinschaft – die Gemeinde – die Eda, die Israeliten und die anderen Ausgezogenen, die sich zur Gemeinschaft bekennen.

Für uns heute bedeutet dies: Weil wir hier in der Diaspora im übertragenen Sinn noch immer in der Wüste leben, ist es so lebensnotwendig, dass wir uns mit unserem Engagement zu unseren örtlichen jüdischen Gemeinden bekennen.

Der Autor ist Rabbiner in Berlin und Potsdam und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

INHALT
Am Anfang des Wochenabschnitts Bamidbar steht die Zählung aller wehrfähigen Männer, mit Ausnahme der Leviten. Sie sind vom Militärdienst befreit und nehmen die Stelle der Erstgeborenen Israels ein. Ihnen wird der Dienst im Stiftszelt übertragen. Bei ihnen soll von nun an jeder Erstgeborene ausgelöst werden. Zudem wird geregelt, welche Familien für den Auf- und Abbau des Stiftszelts verantwortlich sind.
4. Buch Mose 1,1 – 4,20

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