Twitter

Vogelfrei

Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

»Power to the People.« Mit diesem griffigen Motto buhlt Elon Musk seit einigen Wochen um die Unterstützung der Weltöffentlichkeit, die wie gebannt jede seiner meist sehr präg­nanten Statements auf Twitter verfolgt.

Der neue Eigentümer und alleinige Chef der einst euphemistisch als »Kurznachrichtendienst« bezeichneten Internet-Plattform verschwendet keine Zeit, das Unternehmen umzukrempeln, das er sich im Oktober für 44 Milliarden US-Dollar einverleibt hat. Tausende Mitarbeiter, von den Vorständen bis hin zu ganzen Abteilungen, wurden in einer chaotischen Aktion gefeuert. Einige Kündigungen wurden umgehend wieder zurückgenommen. Ein geordneter Übergang sieht anders aus.

»chief twit« Fest steht nur: Musk ist unumschränkter Chef bei Twitter. Und er genießt die neue Rolle als »Chief Twit« und Alleinunterhalter sichtlich – und auch die mediale Aufmerksamkeit, die seine Tweets an die immerhin 114 Millionen Follower erzeugen. Ob das jedoch etwas Gutes bedeutet, darf bezweifelt werden.

Sicher, Musk vertritt den Anspruch, die Plattform zu demokratisieren und so »die Stimme des Volkes zu stärken«. Dafür will er die begehrten blauen Häkchen, die bislang nur prominente Twitter-Nutzer bekamen, allen zugestehen – vorausgesetzt, sie sind bereit, dafür zu bezahlen.

Das Profitstreben Musks ist legitim. Allerdings könnte der reichste Mann der Welt sich am Ende als Totengräber Twitters erweisen.

Das Profitstreben Musks ist legitim. Allerdings könnte der reichste Mann der Welt sich am Ende als Totengräber Twitters erweisen. Denn: Musk scheint es nicht nur ums Geschäft zu gehen, und sein Fokus scheint ausschließlich auf den USA zu liegen. Was der Rest der Welt denkt, kümmert ihn herzlich wenig. In Amerika umwirbt und hofiert der Egozentriker mit seinen Wortmeldungen vor allem ultrarechte Kreise.

donald trump Vor der Abstimmung am Dienstag rief er sogar zur Wahl der Republikaner auf, auch dies ein ungewöhnlicher Vorgang. Womöglich lässt Musk auch den im Januar 2021 gesperrten Donald Trump zurückkehren – im Namen der Meinungsfreiheit. Wie verroht die öffentliche Debatte in den USA mittlerweile ist, dürfte Musk nicht entgangen sein, der jüngste Wahlkampf hat es wieder gezeigt. Klar ist: Eine Aufweichung der Twitter-Hausordnung würde nicht unbedingt mehr »Power to the People« bedeuten, eher mehr »Power to the Rüpel«.

Eine lautstarke, radikale und übergriffige Minderheit könnte dann den Tonfall bestimmen. Wir wissen nicht, ob Elon Musk das wirklich will oder ob er aus politischen Erwägungen heraus nur damit kokettiert. Den jüngst mehrfach durch antisemitische Ausfälle auffällig gewordenen und zeitweise von Twitter gesperrten Rapper Kanye West begrüßte er jedenfalls mit den Worten »Welcome back, my friend«.

In den USA fühlen sich einige Antisemiten durch Musks Twitter-Übernahme ermutigt.

Im Zusammenhang mit dem brutalen Angriff auf Paul Pelosi, den 82-jährigen Ehemann von Nancy Pelosi, verbreitete Musk eine Verschwörungstheorie. Zwar löschte er seinen Tweet wieder. Doch Vorfälle dieser Art sind keine Ausnahme.

kahlschlag Auch Musks Kahlschlag bei der Twitter-Belegschaft und seine Avancen an die Verfechter der abstrusen These, die freie Meinungsäußerung in Amerika werde unterdrückt, sind Anzeichen dafür, dass er mit dem Kauf des Unternehmens in erster Linie politische Zwecke verfolgt und nicht unternehmerische.

Die Folgen sind schon jetzt sichtbar: Antisemiten fühlen sich durch seine Twitter-Übernahme ermutigt. Das Forschungsinstitut Network Contagion beobachtete in den letzten Tagen »einen starken Anstieg antijüdischer Rhetorik auf Twitter«. Dass es bei verbalem Hass nicht immer bleibt, haben die zahlreichen Angriffe auf Juden in den vergangenen Jahren gezeigt. Elon Musk müsste eigentlich gewarnt sein.

Jüdische Organisationen wie die Anti-Defamation League (ADL), die zuvor auf Zusammenarbeit mit Twitter gesetzt haben, gehen mittlerweile auf Distanz. Die ADL hat sich sogar den Forderungen nach einem Werbeboykott angeschlossen – offenbar mit einigem Erfolg: Reihenweise kehren Anzeigenkunden Twitter den Rücken.

provokationen Beobachter tun Musks Provokationen gelegentlich als gezielte Ablenkungsmanöver oder rhetorische Mätzchen ab. Doch selbst wenn sie das wären: Gefährlich ist sein Spiel mit dem Feuer trotzdem. Denn vieles von dem, was in den letzten Jahren an Plattformregulierung erkämpft wurde auf deutscher und europäischer Ebene – oft gegen den Widerstand der Betreiber der Plattformen –, könnte Musk nun versuchen, wieder einzureißen.

Die mühsam errichtete Brandmauer im Kampf gegen Falschinformationen, Hass und Hetze könnte durchlässig werden.

Die mühsam errichtete Brandmauer im Kampf gegen Falschinformationen, Hass und Hetze könnte durchlässig werden. Das würde, um im Jargon des »Chief Twit« zu bleiben, den blauen Vogel aber nicht beflügeln und aus seinem Käfig befreien. Vielmehr würde es die Vernünftigen unter den Twitter-Nutzern vogelfrei und damit schutzlos machen.

Man sollte die Bedeutung von Twitter für den demokratischen Diskurs hierzulande nicht überhöhen. Und nicht alles, was in Amerika von Belang ist, betrifft uns in Europa. Sollte Twitter aber zum Einfallstor werden für Hass und Hetze, und das ausgerechnet unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit, wären die Folgen für alle Nutzer spürbar.

Elon Musk hat angekündigt, die Regeln für die Löschung von Inhalten zu überarbeiten. »Twitter muss die mit Abstand genaueste Informationsquelle über die Welt werden«, schrieb er. Ob er das wirklich will, ist fraglich. Die Politik sollte genau hinschauen und ihn an seinen Taten messen.

Jubiläum

Stimme der Demokratie

Vor 75 Jahren wurde der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet. Heute hat das Gremium vielfältige Aufgaben und ist unverzichtbarer Teil dieses Landes

von Detlef David Kauschke  17.09.2025

Europäische Union

Wie die EU-Kommission Israel sanktionieren will

Ursula von der Leyens Kommission will Israel alle Handelsvergünstigungen streichen. Doch eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten ist (noch) nicht in Sicht. Die Hintergründe

von Michael Thaidigsmann  17.09.2025

Meinung

Sánchez missbraucht ein Radrennen für seine Israelpolitik

Dass Spaniens Regierungschef die Störer der Vuelta lobte, ist demokratieschwächend und gehört zu seinem Kalkül, Israel weltweit zu isolieren

von Nicole Dreyfus  17.09.2025

Meinung

Die Tränen des Kanzlers

Bei seiner Rede in München gab Friedrich Merz ein hochemotionales Bekenntnis zur Sicherheit jüdischen Lebens ab. Doch zum »Nie wieder dürfen Juden Opfer werden!« gehört auch, den jüdischen Staat nicht im Stich zu lassen

von Philipp Peyman Engel  17.09.2025

Zentralrat

Schuster: Zwei-Staaten-Lösung nach Friedensverhandlungen mit Israel

Ein jeweils selbstständiger Staat Israel und Palästina - dafür spricht sich auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland aus. Unter bestimmten Voraussetzungen

von Leticia Witte  17.09.2025

Köln

Antisemitische Ausschreitungen bei Kreisliga-Spiel

Spieler des Vereins Makkabi wurden offenbar beschimpft, bespuckt und körperlich attackiert

 17.09.2025

Antisemitismus

Berliner Treitschkestraße wird am 1. Oktober umbenannt

Der Straßenname erinnert künftig an die im KZ Theresienstadt gestorbene ehemalige Direktorin des früheren jüdischen Blindenheims von Steglitz, Betty Katz (1872-1944)

 17.09.2025

Kritik

Toni Krahl hat »kein Verständnis« für israelfeindliche Demonstrationen

Was in der Region um Israel passiere, sei ein Drama, das sich über Jahrzehnte entwickelt habe, sagte Krahl

 17.09.2025

Berlin

Ahmetovic: Berlin muss Weg für Israel-Sanktionen freimachen

Der SPD-Politiker fordert, dass die schwarz-rote Koalition ihre »Blockadehaltung« beendet und die Vorschläge von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für konkrete Maßnahmen gegen den jüdischen Staat unterstützt

 17.09.2025